Lot Nr. 58 #


Annibale Carracci


Annibale Carracci - Meisterzeichnungen und Druckgraphik bis 1900, Aquarelle u. Miniaturen

(Bologna 1560-1609 Rom) Landschaft mit großem Baum, im Vordergrund ein Hirte mit seiner Herde, Feder in Braun auf Bütten, 20,2, x 27,3 cm, Passep., gerahmt, (Sch)

Provenienz: Sammlung Max Aaron Goldstein (1870-1941), St. Louis, USA (Lugt 2824); Privatsammlung, Frankreich.

Gutachten von Dr. Nicholas Turner, 17. Juli 2013, liegt vor.

Literatur: vgl. C. Loisel, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inventaire Général des Dessins Italiens, VII, Ludovico, Agostino, Annibale Carracci, Paris 2004, S. 298–99, Nr. 733; Drawn to Excellence. Renaissance to Romantic Drawings from a Private Collection, Ausst. Kat. Smith College Museum or Art, Northampton, Massachusetts, September 2012 - Jänner 2013, Nr. 33; The Drawings of Annibale Carracci, Ausst. Kat. National Gallery of Art, Washington, September 1999 - Jänner 2000, S. 288–89, Nr. 95.

Laut Dr. Nicholas Turner steht die Zuschreibung der vorliegenden Zeichnung an Annibale Carracci außer Zweifel. Bis vor kurzem galt die Zeichnung noch als Werk seines Bruders Agostino, der jedoch in seinen Landschaftszeichnungen nie dasselbe Maß an technischer Perfektion und künstlerischer Qualität erreichte, wie Annibale. Anhand stilistischer Kriterien wie der kraftvollen und expressiven Linienführung schlägt Turner eine Datierung innerhalb der römischen Periode des Künstlers um 1600 vor. Sowohl in der kompositorischen Anlage der Szene als auch deren technischer Ausführung sind Referenzen an die venezianische Landschaftszeichnung des 16. Jahrhunderts bemerkbar, als deren Vertreter die beiden Pioniere Tizian (um 1488/1490–1576) und Domenico Campagnola (um 1500–1564) den größten Einfluss auf Annibale hatten. Wie auch in dem vorliegendem Blatt führten die venezianischen Künstler jener Zeit die Landschaftszeichnungen meist in der Technik der braunen Tuschfeder aus, die Halbtöne und Übergänge zwischen den hellen und dunklen Partien wurden meist durch Kreuzschraffuren oder parallele Linien erzeugt, der Gebrauch der Lavierung in brauner und schwarzer Tusche zur Hervorhebung von Helldunkelkontrasten war jedoch seltener üblich.

Die zahlreichen Landschaftszeichnungen, die Annibale während seiner römischen Periode um 1600 ausführte, sind hinsichtlich ihrer Technik und der kompositorischen Struktur sehr ähnlich aufgebaut. Meist wird das Zentrum sowie der mittlere Bildraum durch einen großen Baum oder eine Baumgruppe bestimmt, im Hintergrund wird der Ausblick auf die umgebende Landschaft nur vage angedeutet, im Vordergrund sorgen figurale Motive für eine Belebung der Szene. Ein vergleichbarer Bildaufbau mit einer ähnlichen Gegenüberstellung von Figur und Landschaft findet sich etwa in der Zeichnung “Landschaft mit einem Hirten und Kühen” im Département des Arts Graphiques, Musée du Louvre (Inv. 7450, vgl. Loisel 2004, Nr. 733). Wenngleich die Zeichnung im Louvre weniger ausgeführt und skizzenhafter erscheint als in dem vorliegendem Blatt, so besteht doch in der Anordnung der Figuren parallel zu dem sich dahinter öffnenden Bildraum eine augenscheinliche Übereinstimmung. In der Darstellung des komplizierten Blattwerkes und der Aste des Baumes offenbart sich in der vorliegenden Zeichnung eindeutig die virtuose Handschrift von Annibale. Die Vitalität der vegetativen Formen und deren Dominanz gegenüber ihrer Umgebung machen Annibale zum Begründer der italienischen Landschaftszeichnung, ein Genre das sich bis dahin noch in der formativen Phase seiner Entwicklung befand. Eine exakte Parallele zu der virtuosen Ausführung des Baumes und des Blattwerkes findet sich in einer von Annibales schönsten Naturstudien, der “Studie eines Baumes” in einer Privatsammlung, New York (vgl. Ausst. Kat. Massachusetts 2012, Nr. 33). Die Kaskaden der rhythmischen Schnörkel die das Blattwerk andeuten, die kleinen Kreise die unregelmäßige Knötchen am Baumstamm darstellen oder die Löcher, in denen Vögel ihr Nest gebaut haben, die kraftvollen Parallelschraffuren zur Hervorhebung der dunklen Partien sowie die stark akzentuierten Linien, welche die verschatteten Konturen des Baumstammes andeuten, sind in beiden Zeichnungen identisch.

Es besteht jedoch ein entscheidender Unterschied zwischen der vorliegenden Landschaft und der “Studie eines Baumes” in New York. Vielleicht mehr als in jeder anderen Zeichnung gelingt es Annibale in dem vorliegenden Blatt, ein Gefühl für die Wetterlage und die Atmosphäre der Landschaftsszenerie zu vermitteln. Über den Bergen im Hintergrund mischen sich am linken oberen Rand dunklere mit helleren Wolken, die das Herannahen eines Unwetters andeuten, während die dunklen, etwas tiefer liegenden Wolken rechts den Berg in der weiten Ferne der Landschaft einhüllen. Bei der “Studie eines Baumes” hingegen handelt es sich um eine reine Detailstudie eines Naturausschnittes, in der Annibale bis auf die zarte Andeutung einiger Wolken auf eine atmosphärische Schilderung der Landschaft völlig verzichtet. Erst später, in seinen metaphysischen Landschaftsstudien, wie etwa der “Landschaft mit aufgehender Sonne” im British Museum (Inv. 1972–7–22–13, vgl. Ausst. Kat. Washington 1999, Kat. 95, S. 288–89) erreicht Annibale eine erfolgreiche Integration von landschaftlichem Terrain und der sich ständig wandelnden Atmosphäre des sich darüber wölbenden Himmels.

In der harmonischen Synthese von klassischer Naturdarstellung und der Schilderung ihrer bewegten von ständigem Wandel geprägten Atmosphäre leistet Annibale einen entscheidenden Beitrag für die Entwicklung der italienischen Landschaftszeichnung, mit der er bis weit über das 18. Jahrhundert hinaus zum Vorbild für nachfolgende Generationen wird.

Provenienz: Sammlung Max Aaron Goldstein (1870-1941), St. Louis, USA (Lugt 2824); Privatsammlung, Frankreich. Gutachten von Dr. Nicholas Turner, 17. Juli 2013, liegt vor. Literatur: vgl. C. Loisel, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inventaire Général des Dessins Italiens, VII, Ludovico, Agostino, Annibale Carracci, Paris 2004, S. 298–99, Nr. 733; Drawn to Excellence. Renaissance to Romantic Drawings from a Private Collection, Ausst. Kat. Smith College Museum or Art, Northampton, Massachusetts, September 2012 - Jänner 2013, Nr. 33; The Drawings of Annibale Carracci, Ausst. Kat. National Gallery of Art, Washington, September 1999 - Jänner 2000, S. 288–89, Nr. 95. Laut Dr. Nicholas Turner steht die Zuschreibung der vorliegenden Zeichnung an Annibale Carracci außer Zweifel. Bis vor kurzem galt die Zeichnung noch als Werk seines Bruders Agostino, der jedoch in seinen Landschaftszeichnungen nie dasselbe Maß an technischer Perfektion und künstlerischer Qualität erreichte, wie Annibale. Anhand stilistischer Kriterien wie der kraftvollen und expressiven Linienführung schlägt Turner eine Datierung innerhalb der römischen Periode des Künstlers um 1600 vor. Sowohl in der kompositorischen Anlage der Szene als auch deren technischer Ausführung sind Referenzen an die venezianische Landschaftszeichnung des 16. Jahrhunderts bemerkbar, als deren Vertreter die beiden Pioniere Tizian (um 1488/1490–1576) und Domenico Campagnola (um 1500–1564) den größten Einfluss auf Annibale hatten. Wie auch in dem vorliegendem Blatt führten die venezianischen Künstler jener Zeit die Landschaftszeichnungen meist in der Technik der braunen Tuschfeder aus, die Halbtöne und Übergänge zwischen den hellen und dunklen Partien wurden meist durch Kreuzschraffuren oder parallele Linien erzeugt, der Gebrauch der Lavierung in brauner und schwarzer Tusche zur Hervorhebung von Helldunkelkontrasten war jedoch seltener üblich. Die zahlreichen Landschaftszeichnungen, die Annibale während seiner römischen Periode um 1600 ausführte, sind hinsichtlich ihrer Technik und der kompositorischen Struktur sehr ähnlich aufgebaut. Meist wird das Zentrum sowie der mittlere Bildraum durch einen großen Baum oder eine Baumgruppe bestimmt, im Hintergrund wird der Ausblick auf die umgebende Landschaft nur vage angedeutet, im Vordergrund sorgen figurale Motive für eine Belebung der Szene. Ein vergleichbarer Bildaufbau mit einer ähnlichen Gegenüberstellung von Figur und Landschaft findet sich etwa in der Zeichnung “Landschaft mit einem Hirten und Kühen” im Département des Arts Graphiques, Musée du Louvre (Inv. 7450, vgl. Loisel 2004, Nr. 733). Wenngleich die Zeichnung im Louvre weniger ausgeführt und skizzenhafter erscheint als in dem vorliegendem Blatt, so besteht doch in der Anordnung der Figuren parallel zu dem sich dahinter öffnenden Bildraum eine augenscheinliche Übereinstimmung. In der Darstellung des komplizierten Blattwerkes und der Aste des Baumes offenbart sich in der vorliegenden Zeichnung eindeutig die virtuose Handschrift von Annibale. Die Vitalität der vegetativen Formen und deren Dominanz gegenüber ihrer Umgebung machen Annibale zum Begründer der italienischen Landschaftszeichnung, ein Genre das sich bis dahin noch in der formativen Phase seiner Entwicklung befand. Eine exakte Parallele zu der virtuosen Ausführung des Baumes und des Blattwerkes findet sich in einer von Annibales schönsten Naturstudien, der “Studie eines Baumes” in einer Privatsammlung, New York (vgl. Ausst. Kat. Massachusetts 2012, Nr. 33). Die Kaskaden der rhythmischen Schnörkel die das Blattwerk andeuten, die kleinen Kreise die unregelmäßige Knötchen am Baumstamm darstellen oder die Löcher, in denen Vögel ihr Nest gebaut haben, die kraftvollen Parallelschraffuren zur Hervorhebung der dunklen Partien sowie die stark akzentuierten Linien, welche die verschatteten Konturen des Baumstammes andeuten, sind in beiden Zeichnungen identisch. Es besteht jedoch ein entscheidender Unterschied zwischen der vorliegenden Landschaft und der “Studie eines Baumes” in New York. Vielleicht mehr als in jeder anderen Zeichnung gelingt es Annibale in dem vorliegenden Blatt, ein Gefühl für die Wetterlage und die Atmosphäre der Landschaftsszenerie zu vermitteln. Über den Bergen im Hintergrund mischen sich am linken oberen Rand dunklere mit helleren Wolken, die das Herannahen eines Unwetters andeuten, während die dunklen, etwas tiefer liegenden Wolken rechts den Berg in der weiten Ferne der Landschaft einhüllen. Bei der “Studie eines Baumes” hingegen handelt es sich um eine reine Detailstudie eines Naturausschnittes, in der Annibale bis auf die zarte Andeutung einiger Wolken auf eine atmosphärische Schilderung der Landschaft völlig verzichtet. Erst später, in seinen metaphysischen Landschaftsstudien, wie etwa der “Landschaft mit aufgehender Sonne” im British Museum (Inv. 1972–7–22–13, vgl. Ausst. Kat. Washington 1999, Kat. 95, S. 288–89) erreicht Annibale eine erfolgreiche Integration von landschaftlichem Terrain und der sich ständig wandelnden Atmosphäre des sich darüber wölbenden Himmels. In der harmonischen Synthese von klassischer Naturdarstellung und der Schilderung ihrer bewegten von ständigem Wandel geprägten Atmosphäre leistet Annibale einen entscheidenden Beitrag für die Entwicklung der italienischen Landschaftszeichnung, mit der er bis weit über das 18. Jahrhundert hinaus zum Vorbild für nachfolgende Generationen wird.

Expertin: Mag. Astrid-Christina Schierz Mag. Astrid-Christina Schierz
+43-1-515 60-546

astrid.schierz@dorotheum.at

30.09.2015 - 15:00

Schätzwert:
EUR 18.000,- bis EUR 20.000,-

Annibale Carracci


(Bologna 1560-1609 Rom) Landschaft mit großem Baum, im Vordergrund ein Hirte mit seiner Herde, Feder in Braun auf Bütten, 20,2, x 27,3 cm, Passep., gerahmt, (Sch)

Provenienz: Sammlung Max Aaron Goldstein (1870-1941), St. Louis, USA (Lugt 2824); Privatsammlung, Frankreich.

Gutachten von Dr. Nicholas Turner, 17. Juli 2013, liegt vor.

Literatur: vgl. C. Loisel, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inventaire Général des Dessins Italiens, VII, Ludovico, Agostino, Annibale Carracci, Paris 2004, S. 298–99, Nr. 733; Drawn to Excellence. Renaissance to Romantic Drawings from a Private Collection, Ausst. Kat. Smith College Museum or Art, Northampton, Massachusetts, September 2012 - Jänner 2013, Nr. 33; The Drawings of Annibale Carracci, Ausst. Kat. National Gallery of Art, Washington, September 1999 - Jänner 2000, S. 288–89, Nr. 95.

Laut Dr. Nicholas Turner steht die Zuschreibung der vorliegenden Zeichnung an Annibale Carracci außer Zweifel. Bis vor kurzem galt die Zeichnung noch als Werk seines Bruders Agostino, der jedoch in seinen Landschaftszeichnungen nie dasselbe Maß an technischer Perfektion und künstlerischer Qualität erreichte, wie Annibale. Anhand stilistischer Kriterien wie der kraftvollen und expressiven Linienführung schlägt Turner eine Datierung innerhalb der römischen Periode des Künstlers um 1600 vor. Sowohl in der kompositorischen Anlage der Szene als auch deren technischer Ausführung sind Referenzen an die venezianische Landschaftszeichnung des 16. Jahrhunderts bemerkbar, als deren Vertreter die beiden Pioniere Tizian (um 1488/1490–1576) und Domenico Campagnola (um 1500–1564) den größten Einfluss auf Annibale hatten. Wie auch in dem vorliegendem Blatt führten die venezianischen Künstler jener Zeit die Landschaftszeichnungen meist in der Technik der braunen Tuschfeder aus, die Halbtöne und Übergänge zwischen den hellen und dunklen Partien wurden meist durch Kreuzschraffuren oder parallele Linien erzeugt, der Gebrauch der Lavierung in brauner und schwarzer Tusche zur Hervorhebung von Helldunkelkontrasten war jedoch seltener üblich.

Die zahlreichen Landschaftszeichnungen, die Annibale während seiner römischen Periode um 1600 ausführte, sind hinsichtlich ihrer Technik und der kompositorischen Struktur sehr ähnlich aufgebaut. Meist wird das Zentrum sowie der mittlere Bildraum durch einen großen Baum oder eine Baumgruppe bestimmt, im Hintergrund wird der Ausblick auf die umgebende Landschaft nur vage angedeutet, im Vordergrund sorgen figurale Motive für eine Belebung der Szene. Ein vergleichbarer Bildaufbau mit einer ähnlichen Gegenüberstellung von Figur und Landschaft findet sich etwa in der Zeichnung “Landschaft mit einem Hirten und Kühen” im Département des Arts Graphiques, Musée du Louvre (Inv. 7450, vgl. Loisel 2004, Nr. 733). Wenngleich die Zeichnung im Louvre weniger ausgeführt und skizzenhafter erscheint als in dem vorliegendem Blatt, so besteht doch in der Anordnung der Figuren parallel zu dem sich dahinter öffnenden Bildraum eine augenscheinliche Übereinstimmung. In der Darstellung des komplizierten Blattwerkes und der Aste des Baumes offenbart sich in der vorliegenden Zeichnung eindeutig die virtuose Handschrift von Annibale. Die Vitalität der vegetativen Formen und deren Dominanz gegenüber ihrer Umgebung machen Annibale zum Begründer der italienischen Landschaftszeichnung, ein Genre das sich bis dahin noch in der formativen Phase seiner Entwicklung befand. Eine exakte Parallele zu der virtuosen Ausführung des Baumes und des Blattwerkes findet sich in einer von Annibales schönsten Naturstudien, der “Studie eines Baumes” in einer Privatsammlung, New York (vgl. Ausst. Kat. Massachusetts 2012, Nr. 33). Die Kaskaden der rhythmischen Schnörkel die das Blattwerk andeuten, die kleinen Kreise die unregelmäßige Knötchen am Baumstamm darstellen oder die Löcher, in denen Vögel ihr Nest gebaut haben, die kraftvollen Parallelschraffuren zur Hervorhebung der dunklen Partien sowie die stark akzentuierten Linien, welche die verschatteten Konturen des Baumstammes andeuten, sind in beiden Zeichnungen identisch.

Es besteht jedoch ein entscheidender Unterschied zwischen der vorliegenden Landschaft und der “Studie eines Baumes” in New York. Vielleicht mehr als in jeder anderen Zeichnung gelingt es Annibale in dem vorliegenden Blatt, ein Gefühl für die Wetterlage und die Atmosphäre der Landschaftsszenerie zu vermitteln. Über den Bergen im Hintergrund mischen sich am linken oberen Rand dunklere mit helleren Wolken, die das Herannahen eines Unwetters andeuten, während die dunklen, etwas tiefer liegenden Wolken rechts den Berg in der weiten Ferne der Landschaft einhüllen. Bei der “Studie eines Baumes” hingegen handelt es sich um eine reine Detailstudie eines Naturausschnittes, in der Annibale bis auf die zarte Andeutung einiger Wolken auf eine atmosphärische Schilderung der Landschaft völlig verzichtet. Erst später, in seinen metaphysischen Landschaftsstudien, wie etwa der “Landschaft mit aufgehender Sonne” im British Museum (Inv. 1972–7–22–13, vgl. Ausst. Kat. Washington 1999, Kat. 95, S. 288–89) erreicht Annibale eine erfolgreiche Integration von landschaftlichem Terrain und der sich ständig wandelnden Atmosphäre des sich darüber wölbenden Himmels.

In der harmonischen Synthese von klassischer Naturdarstellung und der Schilderung ihrer bewegten von ständigem Wandel geprägten Atmosphäre leistet Annibale einen entscheidenden Beitrag für die Entwicklung der italienischen Landschaftszeichnung, mit der er bis weit über das 18. Jahrhundert hinaus zum Vorbild für nachfolgende Generationen wird.

Provenienz: Sammlung Max Aaron Goldstein (1870-1941), St. Louis, USA (Lugt 2824); Privatsammlung, Frankreich. Gutachten von Dr. Nicholas Turner, 17. Juli 2013, liegt vor. Literatur: vgl. C. Loisel, Musée du Louvre, Département des Arts Graphiques, Inventaire Général des Dessins Italiens, VII, Ludovico, Agostino, Annibale Carracci, Paris 2004, S. 298–99, Nr. 733; Drawn to Excellence. Renaissance to Romantic Drawings from a Private Collection, Ausst. Kat. Smith College Museum or Art, Northampton, Massachusetts, September 2012 - Jänner 2013, Nr. 33; The Drawings of Annibale Carracci, Ausst. Kat. National Gallery of Art, Washington, September 1999 - Jänner 2000, S. 288–89, Nr. 95. Laut Dr. Nicholas Turner steht die Zuschreibung der vorliegenden Zeichnung an Annibale Carracci außer Zweifel. Bis vor kurzem galt die Zeichnung noch als Werk seines Bruders Agostino, der jedoch in seinen Landschaftszeichnungen nie dasselbe Maß an technischer Perfektion und künstlerischer Qualität erreichte, wie Annibale. Anhand stilistischer Kriterien wie der kraftvollen und expressiven Linienführung schlägt Turner eine Datierung innerhalb der römischen Periode des Künstlers um 1600 vor. Sowohl in der kompositorischen Anlage der Szene als auch deren technischer Ausführung sind Referenzen an die venezianische Landschaftszeichnung des 16. Jahrhunderts bemerkbar, als deren Vertreter die beiden Pioniere Tizian (um 1488/1490–1576) und Domenico Campagnola (um 1500–1564) den größten Einfluss auf Annibale hatten. Wie auch in dem vorliegendem Blatt führten die venezianischen Künstler jener Zeit die Landschaftszeichnungen meist in der Technik der braunen Tuschfeder aus, die Halbtöne und Übergänge zwischen den hellen und dunklen Partien wurden meist durch Kreuzschraffuren oder parallele Linien erzeugt, der Gebrauch der Lavierung in brauner und schwarzer Tusche zur Hervorhebung von Helldunkelkontrasten war jedoch seltener üblich. Die zahlreichen Landschaftszeichnungen, die Annibale während seiner römischen Periode um 1600 ausführte, sind hinsichtlich ihrer Technik und der kompositorischen Struktur sehr ähnlich aufgebaut. Meist wird das Zentrum sowie der mittlere Bildraum durch einen großen Baum oder eine Baumgruppe bestimmt, im Hintergrund wird der Ausblick auf die umgebende Landschaft nur vage angedeutet, im Vordergrund sorgen figurale Motive für eine Belebung der Szene. Ein vergleichbarer Bildaufbau mit einer ähnlichen Gegenüberstellung von Figur und Landschaft findet sich etwa in der Zeichnung “Landschaft mit einem Hirten und Kühen” im Département des Arts Graphiques, Musée du Louvre (Inv. 7450, vgl. Loisel 2004, Nr. 733). Wenngleich die Zeichnung im Louvre weniger ausgeführt und skizzenhafter erscheint als in dem vorliegendem Blatt, so besteht doch in der Anordnung der Figuren parallel zu dem sich dahinter öffnenden Bildraum eine augenscheinliche Übereinstimmung. In der Darstellung des komplizierten Blattwerkes und der Aste des Baumes offenbart sich in der vorliegenden Zeichnung eindeutig die virtuose Handschrift von Annibale. Die Vitalität der vegetativen Formen und deren Dominanz gegenüber ihrer Umgebung machen Annibale zum Begründer der italienischen Landschaftszeichnung, ein Genre das sich bis dahin noch in der formativen Phase seiner Entwicklung befand. Eine exakte Parallele zu der virtuosen Ausführung des Baumes und des Blattwerkes findet sich in einer von Annibales schönsten Naturstudien, der “Studie eines Baumes” in einer Privatsammlung, New York (vgl. Ausst. Kat. Massachusetts 2012, Nr. 33). Die Kaskaden der rhythmischen Schnörkel die das Blattwerk andeuten, die kleinen Kreise die unregelmäßige Knötchen am Baumstamm darstellen oder die Löcher, in denen Vögel ihr Nest gebaut haben, die kraftvollen Parallelschraffuren zur Hervorhebung der dunklen Partien sowie die stark akzentuierten Linien, welche die verschatteten Konturen des Baumstammes andeuten, sind in beiden Zeichnungen identisch. Es besteht jedoch ein entscheidender Unterschied zwischen der vorliegenden Landschaft und der “Studie eines Baumes” in New York. Vielleicht mehr als in jeder anderen Zeichnung gelingt es Annibale in dem vorliegenden Blatt, ein Gefühl für die Wetterlage und die Atmosphäre der Landschaftsszenerie zu vermitteln. Über den Bergen im Hintergrund mischen sich am linken oberen Rand dunklere mit helleren Wolken, die das Herannahen eines Unwetters andeuten, während die dunklen, etwas tiefer liegenden Wolken rechts den Berg in der weiten Ferne der Landschaft einhüllen. Bei der “Studie eines Baumes” hingegen handelt es sich um eine reine Detailstudie eines Naturausschnittes, in der Annibale bis auf die zarte Andeutung einiger Wolken auf eine atmosphärische Schilderung der Landschaft völlig verzichtet. Erst später, in seinen metaphysischen Landschaftsstudien, wie etwa der “Landschaft mit aufgehender Sonne” im British Museum (Inv. 1972–7–22–13, vgl. Ausst. Kat. Washington 1999, Kat. 95, S. 288–89) erreicht Annibale eine erfolgreiche Integration von landschaftlichem Terrain und der sich ständig wandelnden Atmosphäre des sich darüber wölbenden Himmels. In der harmonischen Synthese von klassischer Naturdarstellung und der Schilderung ihrer bewegten von ständigem Wandel geprägten Atmosphäre leistet Annibale einen entscheidenden Beitrag für die Entwicklung der italienischen Landschaftszeichnung, mit der er bis weit über das 18. Jahrhundert hinaus zum Vorbild für nachfolgende Generationen wird.

Expertin: Mag. Astrid-Christina Schierz Mag. Astrid-Christina Schierz
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astrid.schierz@dorotheum.at


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
kundendienst@dorotheum.at

+43 1 515 60 200
Auktion: Meisterzeichnungen und Druckgraphik bis 1900, Aquarelle u. Miniaturen
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 30.09.2015 - 15:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 23.09. - 30.09.2015