Lot Nr. 83


Orazio Borgianni zugeschrieben


Orazio Borgianni zugeschrieben - Alte Meister

(Rom 1574–1616)
Christus unter den Schriftgelehrten,
Öl auf undoublierter Leinwand und originalem Keilrahmen, 103 x 131 cm, vermutlich originaler vergoldeter Florentiner Kassettenrahmen des 17. Jahrhunderts

Provenienz:
vermutlich Juan de Lezcano, 1631 – zwei Gemälde dieses Themas werden in seinem Inventarverzeichnis vom 22. Januar 1631 unter Nr. 9 und Nr. 10 erwähnt („La disputa de cristo con los doctors, quadro mediano del detto Borgian original“; „un Cristo mediano que sta en acto de disputar original del […] Borgian“);
vermutlich Kardinal Decio Azzolino, Rom, 1675 („Tela d’imperatore a giacere, historia di Christo fra i dottori. Mano del Borgiani, cornice alla fiorentina intagliata e dorata“);
Familie des Ludovico Roncalli, Foligno, ab 1699 im Familieninventar erwähnt („la disputa di Christo del Borgiani con sua cornice“);
Antonio Elmi, Foligno, 1803 („Terza Camera detta Galleria: […] quadro di palmi cinque per largo rappresentante la Disputa dei Dottori con cornice dorata a buono, Opera di Michelangelo [da Caravaggio]“);
Pandolfi Elmi, Foligno, 19. Jahrhundert;
im Erbgang an den jetzigen Besitzer

Dokumentation:
Archivio di Stato di Napoli, Notai del ’600, notaio G. D. Cotignola, Inventario di Juan de Lezcano (1634), form. 100, prot. 47, c. 278r;
Riksarkivet, Stockholm, Azzolinosamlingen, K 450, Inventario di Guardaroba, lista dei dipinti, c. 18r;
Archivio di Stato di Foligno, Archivio Roncalli, Inventario di Decio Roncalli, 1699;
Archivio di Stato di Foligno, Archivio Pandolfi Elmi, Inventario di Antonio Elmi, 28. Februar 1803, c. 25v

Literatur:
M. Gallo, Orazio Borgianni, l’Accademia di S. Luca e l’Accademia degli Humoristi: documenti e nuove datazioni, in: Storia dell’arte, 76, 1992, S. 296–345, S. 328, Anm. 205;
M. Gallo, Orazio Borgianni pittore romano (1574–1616) e Francisco de Castro conte di Castro, Rom 1997, S. 116/117;
T. Montanari, Il cardinale Decio Azzolino e le collezioni d’arte di Cristina di Svezia, in: Studi Secenteschi, XXXVIII, 1997, S. 187–264, S. 252, Nr. 139;
A. Vannugli, Orazio Borgianni, Juan de Lezcano and a „Martyrdom of St. Lawrence“ at Roncesvalles, in: The Burlington Magazine, CXL, 1998, 1138, S. 5–15, S. 8, Taf. 6;

E. Borsellino, La collezione d’arte del cardinale Decio Azzolino, Rom 2000, S. 87, Nr. 168;
A. Vannugli, La collezione del segretario Juan de Lezcano. Borgianni, Caravaggio, Reni e altri nella quadreria di un funzionario spagnolo nell’Italia del primo Seicento, Rom 2009, S. 407

Wir danken Marco Gallo, der das vorliegende Gemälde nach Prüfung im Original als wichtiges und zur Gänze eigenhändiges Werk Orazio Borgiannis bestätigt hat. Darüber hinaus danken wir Marco Gallo für die Katalogisierung des vorliegenden Gemäldes und für seine Ausführungen zu dessen Provenienz.

Das vorliegende Werk auf undoublierter Originalleinwand befindet sich in hervorragendem Zustand. Vermutlich ist auch der Rahmen original.

Marco Gallo hat das vorliegende Werk in Orazio Borgiannis Reifezeit um 1613–1615 datiert. Das Gemälde ist die Adaption und Weiterentwicklung einer kleineren Komposition, die sich ehemals in den Sammlungen Weitzner und Fiano-Almagià befunden hat und im Sommer 2012 höchst erfolgreich auf dem Londoner Kunstmarkt verkauft wurde. (1)

Das vorliegende Gemälde aus der Sammlung Pandolfi Elmi wurde von Marco Gallo 1997 in einer dem Künstler gewidmeten Monografie (2) sowie von Antonio Vannugli in einem Beitrag im Burlington Magazine veröffentlicht.

PROVENIENZ

Der heutige Besitzer hat das vorliegende Gemälde aus der Sammlung der in Foligno ansässigen Grafen Pandolfi Elmi geerbt, wo es sich zumindest ab Ende des 18. Jahrhunderts befand.(3) Das Werk wird mit einer Zuschreibung an Caravaggio und mit demselben antiken Rahmen, in dem es sich noch heute befindet, in einem 1803 anlässlich des Todes von Graf Antonio Elmi erstellten Inventarverzeichnis erwähnt: „Terza Camera detta Galleria: […] quadro di palmi cinque per largo rappresentante la Disputa dei Dottori con cornice dorata a buono, Opera di Michelangelo [da Caravaggio].“(4)

Hinsichtlich seiner weit zurückreichenden und herausragenden Provenienz ist das vorliegende Gemälde wohl dem Christus unter den Schriftgelehrten aus der Sammlung Weitzner (verkauft 2012 in London) ebenbürtig. Das 1631 in Neapel erstellte Inventarverzeichnis der im Besitz des Juan de Lezcano, eines Freundes und Förderers Borgiannis, befindlichen Gemälde erwähnt eine „Disputa de Cristo con los doctores, quadro mediano del […] Borgian original“ sowie einen „Cristo mediano que sta en acto de disputar original del […] Borgian“.(5) Beide Gemälde müssen daher den jungen Christus im Streitgespräch mit den Schriftgelehrten gezeigt haben (das alte italienische Verb „disputare“ bedeutet soviel wie „erörtern, diskutieren“), sodass wohl auch das zweite Gemälde jene im Lukasevangelium berichtete Szene (2, 41–50) dargestellt hat, in welcher der zwölfjährige Jesus im Tempel von Jerusalem mit den Rabbinern debattiert. Die eher allgemeine Größenangabe (in beiden Fällen gibt das Inventar an, die Gemälde wären „mediani“, also von „durchschnittlicher Größe“) hat die Forschung dazu veranlasst, in dem zuerst erwähnten Werk die kleinere Fassung der Sammlung Weitzner zu sehen, während es keine weiteren Hinweise zu dem zweiten im Inventar verzeichneten Gemälde gibt.(6) Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass sich entweder der eine oder der andere Eintrag im Inventarverzeichnis auf das vorliegende Gemälde aus der Sammlung Pandolfi Elmi bezieht. Nicht außer Acht lassen sollte man ikonografische Details beider Gemälde, die Bezugnahmen auf die Politik Don Francisco de Castros enthalten. Dieser war Graf von Lemos und ein einflussreicher Förderer und Mäzen Borgiannis, der sich zwischen 1609 und 1616 als spanischer Botschafter in Rom aufhielt und dem Lezcano als Sekretär diente. Sowohl das Bild der Sammlung Weitzner als auch jenes der Sammlung Pandolfi Elmi könnten daher mit einem spezifischen Auftrag Castros und Lezcanos in Zusammenhang stehen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich beide eine Zeitlang im Besitz Lezcanos befanden.(7)

Es gibt gute Gründe, das vorliegende Bild aus der Sammlung Pandolfi Elmi der Beschreibung nach mit einem Gemälde gleichzusetzen, das 1675/76 im Inventarverzeichnis der prominenten Sammlung des mächtigen Kardinals Decio Azzolino (ein enger Freund und Vertrauter Königin Christinas von Schweden und ihr Universalerbe) Erwähnung findet: „Tela d’imperatore a giacere, historia di Christo fra i dottori. Mano del Borgiani, cornice alla fiorentina intagliata e dorata.“(8) Beschrieben wird hier ein Leinwandbild im Querformat („a giacere“), das nicht gerade klein war, worauf der Ausdruck „d’imperatore“ verweist. Wie Vannugli im Jahr 2009 dargelegt hat, veranlasst uns dieser letzte Punkt auszuschließen, dass es sich dabei um das kleinere Bild der Sammlung Weitzner handelt, was E. Borsellino wiederum bejahte, als er das Azzolino-Inventar im Jahr 2000 publizierte. Dabei ist jedoch darauf hinzuweisen, dass er keine Kenntnis von der Existenz der vorliegenden Fassung aus der Sammlung Pandolfi Elmi hatte. Es ist davon auszugehen, dass der Kardinal das Gemälde nach 1669 erwarb – dem angenommenen Zeitpunkt der Erstellung eines ersten Inventarverzeichnisses seiner Gemäldesammlung, in deren Auflistung es von einer Disputa noch keine Spur gibt.9

Im Juni 1689 hinterließ der Kardinal seinen gesamten Besitz einem Cousin, dem Marchese Pompeo Azzolino di Fermo (1654–1706), der aufgrund der aus dem Legat Königin Christinas und des Kardinals resultierenden Schulden begann, einzelne Werke aus der Sammlung der Königin an Adelige (darunter die Familie Ottoboni) zu verkaufen, bevor er im Gefolge des Duca di Medinaceli nach Neapel zog. 1692 verkaufte er sein Erbe (oder was davon übrig war) an den Principe Livio Odescalchi.(10) Es ist anzunehmen, dass Pompeo Azzolino in jenen Jahren Borgiannis Disputa ungeachtet des mit dem Vermächtnis des Kardinals verbundenen Fideikommiss verkaufte; jedenfalls ist dokumentiert, dass er mehrere Werke an den Mann brachte, die sich im Besitz von Kardinal Decio Azzolino befunden hatten.(11) Darüber hinaus ist bekannt, dass Azzolino und Christina von Schweden Gemälde tauschten, was so weit ging, dass die beiden Sammlungen als „offen“, sich einander ergänzend und nicht eindeutig zuordenbar galten.(12) Es ist also auch möglich, dass sich Borgiannis Bild, trotzdem es im Inventar des Kardinals verzeichnet war, nach 1676 zu Christinas Sammlung gehörte und daher zum Verkauf freistand. Jedenfalls gibt es in dem nach Pompeos Ableben erstellten Vermögensverzeichnis keinen Hinweis auf die Disputa: Das Dokument belegt, dass er die meisten Gemälde aus der Sammlung des Kardinals davor verkauft hatte, zumal nur rund 50 Werke aufgelistet werden, von denen offenbar bloß zehn aus besagter Sammlung stammen.(13)

Eine Disputa di Gesù al tempio (Christus unter den Schriftgelehrten) von der Hand Borgiannis, bei der es sich wohl nur um die vorliegende Azzolino-Fassung handeln kann, ist in der Sammlung des Adeligen Decio Roncalli (verstorben 1689) aus Foligno verzeichnet, der sie zusammen mit seinem übrigen Besitz an seine Söhne Pietro, Giovanni Martino, Ercole, Ludovico, Leonardo und Pier Marino vermachte. Am 30. April 1699 teilten diese die Gemäldesammlung ihres Vaters unter sich auf, wobei die mit 200 Scudi bewertete „Disputa di Christo del Borgiani con sua cornice“ an Ludovico (1663–1723) ging.(14) Wie aus dem Inventar hervorgeht, war dieser Schätzwert, der vermutlich jenen Preis widerspiegelte, der für das Bild bezahlt worden war, weitaus höher als die veranschlagten Werte für Gemälde von Raffael, Perugino und Reni aus derselben Sammlung, was wiederum belegt, das Borgiannis Werk als von höchster Qualität erachtet worden sein muss. Die wohlhabende Adelsfamilie Roncalli kam ursprünglich aus Bergamo und lebte im 17. Jahrhundert in Rom und Foligno, wo ihre Mitglieder diverse öffentliche Ämter bekleideten. Von besonderem Interesse ist, dass Decios Sohn Ercole (1657–1726), Ludovicos Bruder, ein „gentiluomo di camera“ Königin Christinas war, die damals bereits schwer erkrankt war und zwei Wochen später verstarb.(15) Es muss eine direkte Verbindung zwischen der Familie Roncalli und dem großen Hof Christinas von Schweden gegeben haben, an dem Azzolino eine wichtige Rolle spielte – möglicherweise lernte die Königin die Familie auf ihrer durch Dokumente belegten Reise nach Foligno im Jahr 1655 kennen. Mit großer Sicherheit kannten Ercole Roncalli, Kardinal Decio Azzolino und Pompeo Azzolino (der „cavaliere d’onore“ Königin Christinas) einander gut. Auch die Tatsache, dass Bischof Francesco Azzolino, Pompeos Bruder, auf einer Reise durch seine Diözese Ripatransone am 16. November 1694 in Foligno das Zeitliche segnen sollte,(16) ist interessant.

Im Laufe des 18. Jahrhunderts erwarb die Familie Elmi das Gemälde höchstwahrscheinlich von Ludovico Roncalli oder von einem seiner Erben. Beide Familien lebten in nahe beieinanderliegenden Palästen, und sowohl die Linie des Ludovico Roncalli als auch jene des Antonio Elmi wurden im 18. Jahrhundert mit der in Foligno ansässigen Familie Jocobilli verwandt.

ZUR DATIERUNG DES VORLIEGENDEN GEMÄLDES

Aufgrund einer stilistischen Analyse wurde das Bild der Sammlung Weitzner zwischen 1610 und 1612 datiert. Dafür sprechen seine Mischung aus Naturalismus und Monumentalität sowie die Synthese zwischen römischem Klassizismus und venezianischer Antiklassik, die auch in dem vielgepriesenen großformatigen Altarbild einer Heiligen Familie (um 1610) in der Galleria Nazionale d’Arte im Palazzo Barberini in Rom zutage tritt. Die vorliegende Fassung der Sammlung Pandolfi Elmi wurde ein paar Jahre später gemalt und datiert aus derselben Periode wie das Altargemälde mit einer Mariä Geburt im Chorraum von Nostra Signora della Misericordia in Savona (um 1613). Darauf verweisen die breitere, schnellere und flüssigere Pinselführung in Verbindung mit ausgesprochen caravaggesken Elementen, einschließlich des dunklen Hintergrunds. In der vorliegenden Komposition hat Borgianni den Raum um die Figuren und die Salomonischen Säulen im Hintergrund erweitert. (Die Säulen waren angeregt durch jene des Ziboriums in der alten Basilika von St. Peter, begonnen auf Geheiß Konstantins; der Überlieferung nach haben sie ihren Ursprung im Tempel Salomons in Jerusalem.) Es zeigt sich ein dunkler, geheimnisvoller Raum von eindrucksvoller Atmosphäre, in der die Worte Christi über die Jahrhunderte widerzuhallen scheinen. Borgianni hat hier bewusst auf caravaggeske Wirkung gesetzt,(17) zu der sich ein episch-tragischer Unterton gesellt, welcher der von der venezianischen Malerei inspirierten Fassung der Sammlung Weitzner, deren Ausstrahlung lebhafter ist, abgeht.

Die vorliegende Disputa ist mit ihrer Dramatik ein außergewöhnliches Beispiel für Borgiannis späten caravaggesken Stil, in dem sich die größten Vorzüge seiner Malerei vereinen und eine profunde Kenntnis der italienischen Kunsttradition des 16. Jahrhunderts, aber auch der Einfluss des Tenebrismus und des Stils El Grecos zu erkennen geben. Hinzu kommen eine kreative und eigenwillige Interpretation von Caravaggios naturalistischem Stil und eine Vorwegnahme der Barockmalerei.

Es war nicht ungewöhnlich für Borgianni, dass er von einer Komposition mehrere Versionen schuf. Dies gilt vor allem für seine Tafelbilder, deren erfolgreichste Kompositionen er wiederholte. Gallo zufolge gibt es mehr als eine eigenhändige Version für die Heilige Familie mit hl. Anna und Heiligem Geist(18) (eine in der Sammlung Roberto Longhi in Florenz, die andere in einer englischen Privatsammlung). Dasselbe gilt für den Hl. Christophorus mit dem Jesuskind;(19) ein weiteres Beispiel ist der Tote Christus, von dem es zwei eigenhändige Versionen gibt (eine in der Sammlung Roberto Longhi in Florenz, die andere in der Galleria Spada in Rom).

BIOGRAFIE

Nachdem sich Orazio Borgianni in Rom mit den Grundlagen der Malerei vertraut gemacht hatte, reiste er um 1598 nach Spanien, wo er in Pamplona, Toledo, Madrid und Saragozza für einflussreiche Adelige und Hofbeamte tätig war. Nach seiner Rückkehr nach Italien um 1605 machte er sich sein großes Wissen um die norditalienische Malerei des 16. Jahrhunderts zunutze, das er sich während seiner Reisen durch Italien und Spanien angeeignet hatte: In seinen seltenen Werken (annähernd 70 sind bekannt, die sich fast ausschließlich in namhaften Museen und Kirchen befinden) geht eine neuartige und schöpferische Interpretation von Correggios Raumauffassung Hand in Hand mit der venezianischen Farbigkeit Tintorettos, Bassanos und Tizians. Diese Synthese wird häufig durch einen Filter El Greco’schen Feingefühls gesehen und verbindet sich darüber hinaus mit dem kompositorischen Gespür Raffaels und seiner Nachfolger. Nicht zufällig vergleicht der große klassizistische Kunsttheoretiker Giovanni Francesco Bellori Borgianni mit Giulio Romano. Borgiannis Oeuvre kommt einer brillanten Interpretation der großen italienischen Kunsttradition des 16. Jahrhunderts gleich, bereichert um Anklänge des spanischen Tenebrismus. Dies führte zu aufsehenerregenden Vorwegnahmen des Barock einerseits, etwa in dem riesigen, atemberaubenden Melchiorri-Altarbild von 1608 mit der Vision des hl. Franziskus, das sich heute im Antiquarium von Sezze bei Latina befindet und lange Giovanni Lanfranco zugeschrieben war, andererseits zu einer intelligenten Erneuerung raffaelesker Elemente in einem unverkennbar caravaggesken Stil, wie er auch in dem einfühlsamen Altarbild einer Heiligen Familie von etwa 1610 in der Galleria d’Arte Antica im Palazzo Barberini in Rom erkennbar ist. Dann gibt es da auch noch die Verschmelzung heroischer, lichterfüllter Transfigurationen in der Art El Grecos mit dem Stil emilianischer Künstler, beispielsweise in dem Altarbild Fürsprache des hl. Karl Borromäus vor der Heiligen Dreifaltigkeit von 1612 in San Carlo alle Quattro Fontane in Rom. Erwähnung finden sollten auch die eindrucksvollen Vorahnungen der formalen Krise der Malerei des 18. Jahrhunderts, etwa in dem großartigen, um die Mitte des Jahres 1613 entstandenen Altarbild einer Geburt der Jungfrau Maria im Chorraum von Nostra Signora della Misericordia in Savona, deren Formensprache der eines Giuseppe Maria Crespi oder eines Alessandro Magnasco ebenbürtig scheint.

Anmerkungen:
(1) Zum Gemälde aus der Sammlung Weitzner siehe Sotheby’s, Old Master & British Paintings, Abendauktion, London, 4. Juli 2012, Lot 30.
(2) Das vorliegende Werk wurde erstmals publiziert in: M. Gallo, Orazio Borgianni, l’Accademia di S. Luca e l’Accademia degli Humoristi: documenti e nuove datazioni, in: Storia dell’arte, 76, 1992, S. 296–345, S. 328, Anm. 205, und M. Gallo, „Del Gran Giulio adeguar sul Tebro i vanni“. Il raffaellismo di Orazio Borgianni, in: Caravaggio e il caravaggismo, hrsg. von S. Danesi Squarzina, G. Capitelli und C. Volpi, Rom 1995, S. 139–174, S. 162, Anm. 37, danach publiziert in: M. Gallo, Orazio Borgianni pittore romano (1574–1616) e Francisco de Castro conte di Castro, Rom 1997, S. 116/117. Das Gemälde wurde in der Folge erwähnt und abgebildet bei: A. Vannugli, Orazio Borgianni, Juan de Lezcano and a “Martyrdom of St Lawrence” at Roncesvalles, in: The Burlington Magazine, CXL, 1998, 1138, S. 5–15, S. 8.
(3) Zur Familie Elmi siehe: G. Metelli, Gli Elmi del rione Feldenghi, in: Bollettino storico della città di Foligno, XI, 1987, S. 151–162.
(4) Archivio di Stato di Foligno, Archivio Pandolfi Elmi, Inventarverzeichnis der Besitztümer Antonio Elmis, 28. Februar 1803, c. 25v.
(5) Archivio di Stato di Napoli, Notai del ’600, notaio G. D. Cotignola, Inventarverzeichnis der Besitztümer Juan de Lezcanos (1634), form. 100, prot. 47, c. 278r.
(6) M. Gallo, Orazio Borgianni pittore romano (1574–1616), op. cit., S. 116–119; A. Vannugli, La collezione del segretario Juan de Lezcano. Borgianni, Caravaggio, Reni e altri nella quadreria di un funzionario spagnolo nell’Italia del primo Seicento, Rom 2009, S. 403–407.
(7) In seinem Testament von 1615 ernannte Borgianni Castro und Lezcano zu seinen Nachlassverwaltern und vermachte Castro darüber hinaus mehrere Gemälde; siehe M. Gallo, Orazio Borgianni, l’Accademia di S. Luca e l’Accademia degli Humoristi: documenti e nuove datazioni, in: Storia dell’arte, 76, 1992, S. 296–345, S. 333–338; A. Vannugli, La collezione del segretario Juan de Lezcano, op. cit., S. 439/440.
(8) Riksarkivet, Stockholm, Azzolinosamlingen, K 450, Inventar des Magazins, Verzeichnis der Gemälde, c. 18r: vgl. T. Montanari, Il cardinale Decio Azzolino e le collezioni d’arte di Cristina di Svezia, in: Studi Secenteschi, XXXVIII, 1997, S. 187–264, S. 252, Nr. 139; E. Borsellino, La collezione d’arte del cardinale Decio Azzolino, Rom 2000, S. 87, Nr. 158; A. Vannugli, La collezione del segretario Juan de Lezcano, op. cit., S. 407.
In einem weiteren nach dem Tod erstellten Inventarverzeichnis der Gemäldegalerie, in dem die Künstlernamen oft nicht angegeben sind (sie werden allgemein als „incerto“ geführt), ist das Gemälde als „Altro quadro d’imperatore rappresentante la disputa di n.ro Signore con figura [sic] intagliata, e dorata d’Incerto“ erwähnt (ASR, Notai A.C., Laurentius Bellus, 1689, Bd. 916, cc. 712v–722v, 715r: veröffentlicht in: Borsellino, La collezione d’arte del cardinale Decio Azzolino, ebd., S. 105, Anm. 50).
(9) Besagtes Dokument, erstellt um 1667–1669 und verwahrt im Riksarkivet in Stockholm, Azzolinosamlingen, K 436, Nr. 30/8, cc. 1r–7v, ist veröffentlicht bei: Borsellino, La collezione d’arte, op. cit., S. 57–71 (Doc. 1, iA-A).
(10) Siehe T. Montanari, La dispersione delle collezioni di Cristina di Svezia. Gli Azzolino, gli Ottoboni e gli Odescalchi, in: Storia dell’arte, 90, 1997, S. 250–300. M. Epifani, „Bella e ferace d’Ingegno (se non tanto di coltura) Partenope.“ Il disegno napoletano attraverso le collezioni italiane ed europee tra Sei e Settecento, Dissertation, Università degli studi di Napoli „Federico II“, 2006/2007, S. 43: „1692 wurde des Erbe [der Königin und des Kardinals] von Marchese Pompeo Azzolino, der vermutlich bereits zahlreiche Werke in den drei Jahren davor zu Geld gemacht hatte, an Principe Don Livio Odescalchi verkauft. Nach dessen Tod 1713 wurden die Sammlungen weiter verstreut: Die Gemälde erwarb Herzog Philipp II. von Orléans, […] während die Statuen an König Philipp V. von Spanien verkauft wurden.“ Es ist bemerkenswert, dass sich weder in der Sammlung Odescalchi noch in jener des Herzogs von Orléans eine Spur von Borgiannis Disputa findet; Pompeo muss daher das Gemälde vor 1692 verkauft haben. Zur Verwandtschaft zwischen Kardinal Decio und Pompeo (der oft fälschlicherweise als dessen Neffe bezeichnet wird) siehe V. Wärnhjelm, Romolo Spezioli, medico di Cristina di Svezia, in: Settentrione, neue Reihe, 1994, S. 25–38, S. 25, Anm. 2.
(11) T. Montanari, La dispersione delle collezioni di Cristina di Svezia, op. cit, S. 272, Anm. 47.
(12) T. Montarini, Il cardinale Decio Azzolino e le collezioni d’arte di Cristina di Svezia, op. cit., S. 206–209.
(13) E. Borsellino, La collezione d’arte del cardinale Decio Azzolino, op. cit., S. 35.
(14) Archivio di Stato di Foligno, Not., Serie I, Bd. 1275, notaio B. Pagliarini, 1699, c. 543r: vgl. G. Metelli, Per la storia dei palazzi di Foligno in età barocca, in: Quaderni della Commissione Storica, IV, 1986, 2–3, S. 107.
(15) B. Lattanzi, La famiglia Roncalli, in: Bollettino storico della città di Foligno, III, 1979, S. 42–56, S. 53/54. Die Königin ernannte Ercole per Erlass vom 2. April 1689 zum „Gentiluomo Domestico“ ihres Hofes.
(16) V. Nigrisoli Wärnhjelm, Una lettera inedita del cardinale Decio Azzolino jr sulla nascita della Biblioteca Comunale di Fermo, in: Medici e medicina nelle Marche. Lo Studio Firmano e la storia della medicina. Fermo 1955–2005, Fermo 2005, S. 165–170, S. 167 (bereits veröffentlicht in: Atti della XXXVI tornata dello studio firmano per la storia dell’arte medica e della scienza, hrsg. von A. Serrani, Fermo 2002/2003, S. 185–196, S. 188).
(17) Dies erklärt die traditionelle und verallgemeinernde Zuschreibung des Gemäldes an Caravaggio, die sich auch im Elmi-Inventar von 1803 findet; es kam in Inventarverzeichnissen und bei Schätzungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts häufig vor, dass Gemälde von Künstlern aus dem sogenannten Kreis Caravaggios kurzerhand Caravaggio selbst zugeschrieben wurden.
(18) M. Gallo, Orazio Borgianni pittore romano (1574–1616), op. cit., S. 11, S. 71.
(19) M. Gallo, Orazio Borgianni pittore romano (1574–1616), op. cit., S. 116, Anm. 89.
(20) M. Gallo, Orazio Borgianni pittore romano (1574–1616), op. cit., S. 107–113.

Zusatzabbildung 
verso

Zusatzabbildung 
Infrarotreflektografie
© ]a[ NTK 2015 Univ.Prof. Dipl.-Ing. Dr. M. Schreiner

21.04.2015 - 18:00

Schätzwert:
EUR 500.000,- bis EUR 700.000,-

Orazio Borgianni zugeschrieben


(Rom 1574–1616)
Christus unter den Schriftgelehrten,
Öl auf undoublierter Leinwand und originalem Keilrahmen, 103 x 131 cm, vermutlich originaler vergoldeter Florentiner Kassettenrahmen des 17. Jahrhunderts

Provenienz:
vermutlich Juan de Lezcano, 1631 – zwei Gemälde dieses Themas werden in seinem Inventarverzeichnis vom 22. Januar 1631 unter Nr. 9 und Nr. 10 erwähnt („La disputa de cristo con los doctors, quadro mediano del detto Borgian original“; „un Cristo mediano que sta en acto de disputar original del […] Borgian“);
vermutlich Kardinal Decio Azzolino, Rom, 1675 („Tela d’imperatore a giacere, historia di Christo fra i dottori. Mano del Borgiani, cornice alla fiorentina intagliata e dorata“);
Familie des Ludovico Roncalli, Foligno, ab 1699 im Familieninventar erwähnt („la disputa di Christo del Borgiani con sua cornice“);
Antonio Elmi, Foligno, 1803 („Terza Camera detta Galleria: […] quadro di palmi cinque per largo rappresentante la Disputa dei Dottori con cornice dorata a buono, Opera di Michelangelo [da Caravaggio]“);
Pandolfi Elmi, Foligno, 19. Jahrhundert;
im Erbgang an den jetzigen Besitzer

Dokumentation:
Archivio di Stato di Napoli, Notai del ’600, notaio G. D. Cotignola, Inventario di Juan de Lezcano (1634), form. 100, prot. 47, c. 278r;
Riksarkivet, Stockholm, Azzolinosamlingen, K 450, Inventario di Guardaroba, lista dei dipinti, c. 18r;
Archivio di Stato di Foligno, Archivio Roncalli, Inventario di Decio Roncalli, 1699;
Archivio di Stato di Foligno, Archivio Pandolfi Elmi, Inventario di Antonio Elmi, 28. Februar 1803, c. 25v

Literatur:
M. Gallo, Orazio Borgianni, l’Accademia di S. Luca e l’Accademia degli Humoristi: documenti e nuove datazioni, in: Storia dell’arte, 76, 1992, S. 296–345, S. 328, Anm. 205;
M. Gallo, Orazio Borgianni pittore romano (1574–1616) e Francisco de Castro conte di Castro, Rom 1997, S. 116/117;
T. Montanari, Il cardinale Decio Azzolino e le collezioni d’arte di Cristina di Svezia, in: Studi Secenteschi, XXXVIII, 1997, S. 187–264, S. 252, Nr. 139;
A. Vannugli, Orazio Borgianni, Juan de Lezcano and a „Martyrdom of St. Lawrence“ at Roncesvalles, in: The Burlington Magazine, CXL, 1998, 1138, S. 5–15, S. 8, Taf. 6;

E. Borsellino, La collezione d’arte del cardinale Decio Azzolino, Rom 2000, S. 87, Nr. 168;
A. Vannugli, La collezione del segretario Juan de Lezcano. Borgianni, Caravaggio, Reni e altri nella quadreria di un funzionario spagnolo nell’Italia del primo Seicento, Rom 2009, S. 407

Wir danken Marco Gallo, der das vorliegende Gemälde nach Prüfung im Original als wichtiges und zur Gänze eigenhändiges Werk Orazio Borgiannis bestätigt hat. Darüber hinaus danken wir Marco Gallo für die Katalogisierung des vorliegenden Gemäldes und für seine Ausführungen zu dessen Provenienz.

Das vorliegende Werk auf undoublierter Originalleinwand befindet sich in hervorragendem Zustand. Vermutlich ist auch der Rahmen original.

Marco Gallo hat das vorliegende Werk in Orazio Borgiannis Reifezeit um 1613–1615 datiert. Das Gemälde ist die Adaption und Weiterentwicklung einer kleineren Komposition, die sich ehemals in den Sammlungen Weitzner und Fiano-Almagià befunden hat und im Sommer 2012 höchst erfolgreich auf dem Londoner Kunstmarkt verkauft wurde. (1)

Das vorliegende Gemälde aus der Sammlung Pandolfi Elmi wurde von Marco Gallo 1997 in einer dem Künstler gewidmeten Monografie (2) sowie von Antonio Vannugli in einem Beitrag im Burlington Magazine veröffentlicht.

PROVENIENZ

Der heutige Besitzer hat das vorliegende Gemälde aus der Sammlung der in Foligno ansässigen Grafen Pandolfi Elmi geerbt, wo es sich zumindest ab Ende des 18. Jahrhunderts befand.(3) Das Werk wird mit einer Zuschreibung an Caravaggio und mit demselben antiken Rahmen, in dem es sich noch heute befindet, in einem 1803 anlässlich des Todes von Graf Antonio Elmi erstellten Inventarverzeichnis erwähnt: „Terza Camera detta Galleria: […] quadro di palmi cinque per largo rappresentante la Disputa dei Dottori con cornice dorata a buono, Opera di Michelangelo [da Caravaggio].“(4)

Hinsichtlich seiner weit zurückreichenden und herausragenden Provenienz ist das vorliegende Gemälde wohl dem Christus unter den Schriftgelehrten aus der Sammlung Weitzner (verkauft 2012 in London) ebenbürtig. Das 1631 in Neapel erstellte Inventarverzeichnis der im Besitz des Juan de Lezcano, eines Freundes und Förderers Borgiannis, befindlichen Gemälde erwähnt eine „Disputa de Cristo con los doctores, quadro mediano del […] Borgian original“ sowie einen „Cristo mediano que sta en acto de disputar original del […] Borgian“.(5) Beide Gemälde müssen daher den jungen Christus im Streitgespräch mit den Schriftgelehrten gezeigt haben (das alte italienische Verb „disputare“ bedeutet soviel wie „erörtern, diskutieren“), sodass wohl auch das zweite Gemälde jene im Lukasevangelium berichtete Szene (2, 41–50) dargestellt hat, in welcher der zwölfjährige Jesus im Tempel von Jerusalem mit den Rabbinern debattiert. Die eher allgemeine Größenangabe (in beiden Fällen gibt das Inventar an, die Gemälde wären „mediani“, also von „durchschnittlicher Größe“) hat die Forschung dazu veranlasst, in dem zuerst erwähnten Werk die kleinere Fassung der Sammlung Weitzner zu sehen, während es keine weiteren Hinweise zu dem zweiten im Inventar verzeichneten Gemälde gibt.(6) Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass sich entweder der eine oder der andere Eintrag im Inventarverzeichnis auf das vorliegende Gemälde aus der Sammlung Pandolfi Elmi bezieht. Nicht außer Acht lassen sollte man ikonografische Details beider Gemälde, die Bezugnahmen auf die Politik Don Francisco de Castros enthalten. Dieser war Graf von Lemos und ein einflussreicher Förderer und Mäzen Borgiannis, der sich zwischen 1609 und 1616 als spanischer Botschafter in Rom aufhielt und dem Lezcano als Sekretär diente. Sowohl das Bild der Sammlung Weitzner als auch jenes der Sammlung Pandolfi Elmi könnten daher mit einem spezifischen Auftrag Castros und Lezcanos in Zusammenhang stehen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich beide eine Zeitlang im Besitz Lezcanos befanden.(7)

Es gibt gute Gründe, das vorliegende Bild aus der Sammlung Pandolfi Elmi der Beschreibung nach mit einem Gemälde gleichzusetzen, das 1675/76 im Inventarverzeichnis der prominenten Sammlung des mächtigen Kardinals Decio Azzolino (ein enger Freund und Vertrauter Königin Christinas von Schweden und ihr Universalerbe) Erwähnung findet: „Tela d’imperatore a giacere, historia di Christo fra i dottori. Mano del Borgiani, cornice alla fiorentina intagliata e dorata.“(8) Beschrieben wird hier ein Leinwandbild im Querformat („a giacere“), das nicht gerade klein war, worauf der Ausdruck „d’imperatore“ verweist. Wie Vannugli im Jahr 2009 dargelegt hat, veranlasst uns dieser letzte Punkt auszuschließen, dass es sich dabei um das kleinere Bild der Sammlung Weitzner handelt, was E. Borsellino wiederum bejahte, als er das Azzolino-Inventar im Jahr 2000 publizierte. Dabei ist jedoch darauf hinzuweisen, dass er keine Kenntnis von der Existenz der vorliegenden Fassung aus der Sammlung Pandolfi Elmi hatte. Es ist davon auszugehen, dass der Kardinal das Gemälde nach 1669 erwarb – dem angenommenen Zeitpunkt der Erstellung eines ersten Inventarverzeichnisses seiner Gemäldesammlung, in deren Auflistung es von einer Disputa noch keine Spur gibt.9

Im Juni 1689 hinterließ der Kardinal seinen gesamten Besitz einem Cousin, dem Marchese Pompeo Azzolino di Fermo (1654–1706), der aufgrund der aus dem Legat Königin Christinas und des Kardinals resultierenden Schulden begann, einzelne Werke aus der Sammlung der Königin an Adelige (darunter die Familie Ottoboni) zu verkaufen, bevor er im Gefolge des Duca di Medinaceli nach Neapel zog. 1692 verkaufte er sein Erbe (oder was davon übrig war) an den Principe Livio Odescalchi.(10) Es ist anzunehmen, dass Pompeo Azzolino in jenen Jahren Borgiannis Disputa ungeachtet des mit dem Vermächtnis des Kardinals verbundenen Fideikommiss verkaufte; jedenfalls ist dokumentiert, dass er mehrere Werke an den Mann brachte, die sich im Besitz von Kardinal Decio Azzolino befunden hatten.(11) Darüber hinaus ist bekannt, dass Azzolino und Christina von Schweden Gemälde tauschten, was so weit ging, dass die beiden Sammlungen als „offen“, sich einander ergänzend und nicht eindeutig zuordenbar galten.(12) Es ist also auch möglich, dass sich Borgiannis Bild, trotzdem es im Inventar des Kardinals verzeichnet war, nach 1676 zu Christinas Sammlung gehörte und daher zum Verkauf freistand. Jedenfalls gibt es in dem nach Pompeos Ableben erstellten Vermögensverzeichnis keinen Hinweis auf die Disputa: Das Dokument belegt, dass er die meisten Gemälde aus der Sammlung des Kardinals davor verkauft hatte, zumal nur rund 50 Werke aufgelistet werden, von denen offenbar bloß zehn aus besagter Sammlung stammen.(13)

Eine Disputa di Gesù al tempio (Christus unter den Schriftgelehrten) von der Hand Borgiannis, bei der es sich wohl nur um die vorliegende Azzolino-Fassung handeln kann, ist in der Sammlung des Adeligen Decio Roncalli (verstorben 1689) aus Foligno verzeichnet, der sie zusammen mit seinem übrigen Besitz an seine Söhne Pietro, Giovanni Martino, Ercole, Ludovico, Leonardo und Pier Marino vermachte. Am 30. April 1699 teilten diese die Gemäldesammlung ihres Vaters unter sich auf, wobei die mit 200 Scudi bewertete „Disputa di Christo del Borgiani con sua cornice“ an Ludovico (1663–1723) ging.(14) Wie aus dem Inventar hervorgeht, war dieser Schätzwert, der vermutlich jenen Preis widerspiegelte, der für das Bild bezahlt worden war, weitaus höher als die veranschlagten Werte für Gemälde von Raffael, Perugino und Reni aus derselben Sammlung, was wiederum belegt, das Borgiannis Werk als von höchster Qualität erachtet worden sein muss. Die wohlhabende Adelsfamilie Roncalli kam ursprünglich aus Bergamo und lebte im 17. Jahrhundert in Rom und Foligno, wo ihre Mitglieder diverse öffentliche Ämter bekleideten. Von besonderem Interesse ist, dass Decios Sohn Ercole (1657–1726), Ludovicos Bruder, ein „gentiluomo di camera“ Königin Christinas war, die damals bereits schwer erkrankt war und zwei Wochen später verstarb.(15) Es muss eine direkte Verbindung zwischen der Familie Roncalli und dem großen Hof Christinas von Schweden gegeben haben, an dem Azzolino eine wichtige Rolle spielte – möglicherweise lernte die Königin die Familie auf ihrer durch Dokumente belegten Reise nach Foligno im Jahr 1655 kennen. Mit großer Sicherheit kannten Ercole Roncalli, Kardinal Decio Azzolino und Pompeo Azzolino (der „cavaliere d’onore“ Königin Christinas) einander gut. Auch die Tatsache, dass Bischof Francesco Azzolino, Pompeos Bruder, auf einer Reise durch seine Diözese Ripatransone am 16. November 1694 in Foligno das Zeitliche segnen sollte,(16) ist interessant.

Im Laufe des 18. Jahrhunderts erwarb die Familie Elmi das Gemälde höchstwahrscheinlich von Ludovico Roncalli oder von einem seiner Erben. Beide Familien lebten in nahe beieinanderliegenden Palästen, und sowohl die Linie des Ludovico Roncalli als auch jene des Antonio Elmi wurden im 18. Jahrhundert mit der in Foligno ansässigen Familie Jocobilli verwandt.

ZUR DATIERUNG DES VORLIEGENDEN GEMÄLDES

Aufgrund einer stilistischen Analyse wurde das Bild der Sammlung Weitzner zwischen 1610 und 1612 datiert. Dafür sprechen seine Mischung aus Naturalismus und Monumentalität sowie die Synthese zwischen römischem Klassizismus und venezianischer Antiklassik, die auch in dem vielgepriesenen großformatigen Altarbild einer Heiligen Familie (um 1610) in der Galleria Nazionale d’Arte im Palazzo Barberini in Rom zutage tritt. Die vorliegende Fassung der Sammlung Pandolfi Elmi wurde ein paar Jahre später gemalt und datiert aus derselben Periode wie das Altargemälde mit einer Mariä Geburt im Chorraum von Nostra Signora della Misericordia in Savona (um 1613). Darauf verweisen die breitere, schnellere und flüssigere Pinselführung in Verbindung mit ausgesprochen caravaggesken Elementen, einschließlich des dunklen Hintergrunds. In der vorliegenden Komposition hat Borgianni den Raum um die Figuren und die Salomonischen Säulen im Hintergrund erweitert. (Die Säulen waren angeregt durch jene des Ziboriums in der alten Basilika von St. Peter, begonnen auf Geheiß Konstantins; der Überlieferung nach haben sie ihren Ursprung im Tempel Salomons in Jerusalem.) Es zeigt sich ein dunkler, geheimnisvoller Raum von eindrucksvoller Atmosphäre, in der die Worte Christi über die Jahrhunderte widerzuhallen scheinen. Borgianni hat hier bewusst auf caravaggeske Wirkung gesetzt,(17) zu der sich ein episch-tragischer Unterton gesellt, welcher der von der venezianischen Malerei inspirierten Fassung der Sammlung Weitzner, deren Ausstrahlung lebhafter ist, abgeht.

Die vorliegende Disputa ist mit ihrer Dramatik ein außergewöhnliches Beispiel für Borgiannis späten caravaggesken Stil, in dem sich die größten Vorzüge seiner Malerei vereinen und eine profunde Kenntnis der italienischen Kunsttradition des 16. Jahrhunderts, aber auch der Einfluss des Tenebrismus und des Stils El Grecos zu erkennen geben. Hinzu kommen eine kreative und eigenwillige Interpretation von Caravaggios naturalistischem Stil und eine Vorwegnahme der Barockmalerei.

Es war nicht ungewöhnlich für Borgianni, dass er von einer Komposition mehrere Versionen schuf. Dies gilt vor allem für seine Tafelbilder, deren erfolgreichste Kompositionen er wiederholte. Gallo zufolge gibt es mehr als eine eigenhändige Version für die Heilige Familie mit hl. Anna und Heiligem Geist(18) (eine in der Sammlung Roberto Longhi in Florenz, die andere in einer englischen Privatsammlung). Dasselbe gilt für den Hl. Christophorus mit dem Jesuskind;(19) ein weiteres Beispiel ist der Tote Christus, von dem es zwei eigenhändige Versionen gibt (eine in der Sammlung Roberto Longhi in Florenz, die andere in der Galleria Spada in Rom).

BIOGRAFIE

Nachdem sich Orazio Borgianni in Rom mit den Grundlagen der Malerei vertraut gemacht hatte, reiste er um 1598 nach Spanien, wo er in Pamplona, Toledo, Madrid und Saragozza für einflussreiche Adelige und Hofbeamte tätig war. Nach seiner Rückkehr nach Italien um 1605 machte er sich sein großes Wissen um die norditalienische Malerei des 16. Jahrhunderts zunutze, das er sich während seiner Reisen durch Italien und Spanien angeeignet hatte: In seinen seltenen Werken (annähernd 70 sind bekannt, die sich fast ausschließlich in namhaften Museen und Kirchen befinden) geht eine neuartige und schöpferische Interpretation von Correggios Raumauffassung Hand in Hand mit der venezianischen Farbigkeit Tintorettos, Bassanos und Tizians. Diese Synthese wird häufig durch einen Filter El Greco’schen Feingefühls gesehen und verbindet sich darüber hinaus mit dem kompositorischen Gespür Raffaels und seiner Nachfolger. Nicht zufällig vergleicht der große klassizistische Kunsttheoretiker Giovanni Francesco Bellori Borgianni mit Giulio Romano. Borgiannis Oeuvre kommt einer brillanten Interpretation der großen italienischen Kunsttradition des 16. Jahrhunderts gleich, bereichert um Anklänge des spanischen Tenebrismus. Dies führte zu aufsehenerregenden Vorwegnahmen des Barock einerseits, etwa in dem riesigen, atemberaubenden Melchiorri-Altarbild von 1608 mit der Vision des hl. Franziskus, das sich heute im Antiquarium von Sezze bei Latina befindet und lange Giovanni Lanfranco zugeschrieben war, andererseits zu einer intelligenten Erneuerung raffaelesker Elemente in einem unverkennbar caravaggesken Stil, wie er auch in dem einfühlsamen Altarbild einer Heiligen Familie von etwa 1610 in der Galleria d’Arte Antica im Palazzo Barberini in Rom erkennbar ist. Dann gibt es da auch noch die Verschmelzung heroischer, lichterfüllter Transfigurationen in der Art El Grecos mit dem Stil emilianischer Künstler, beispielsweise in dem Altarbild Fürsprache des hl. Karl Borromäus vor der Heiligen Dreifaltigkeit von 1612 in San Carlo alle Quattro Fontane in Rom. Erwähnung finden sollten auch die eindrucksvollen Vorahnungen der formalen Krise der Malerei des 18. Jahrhunderts, etwa in dem großartigen, um die Mitte des Jahres 1613 entstandenen Altarbild einer Geburt der Jungfrau Maria im Chorraum von Nostra Signora della Misericordia in Savona, deren Formensprache der eines Giuseppe Maria Crespi oder eines Alessandro Magnasco ebenbürtig scheint.

Anmerkungen:
(1) Zum Gemälde aus der Sammlung Weitzner siehe Sotheby’s, Old Master & British Paintings, Abendauktion, London, 4. Juli 2012, Lot 30.
(2) Das vorliegende Werk wurde erstmals publiziert in: M. Gallo, Orazio Borgianni, l’Accademia di S. Luca e l’Accademia degli Humoristi: documenti e nuove datazioni, in: Storia dell’arte, 76, 1992, S. 296–345, S. 328, Anm. 205, und M. Gallo, „Del Gran Giulio adeguar sul Tebro i vanni“. Il raffaellismo di Orazio Borgianni, in: Caravaggio e il caravaggismo, hrsg. von S. Danesi Squarzina, G. Capitelli und C. Volpi, Rom 1995, S. 139–174, S. 162, Anm. 37, danach publiziert in: M. Gallo, Orazio Borgianni pittore romano (1574–1616) e Francisco de Castro conte di Castro, Rom 1997, S. 116/117. Das Gemälde wurde in der Folge erwähnt und abgebildet bei: A. Vannugli, Orazio Borgianni, Juan de Lezcano and a “Martyrdom of St Lawrence” at Roncesvalles, in: The Burlington Magazine, CXL, 1998, 1138, S. 5–15, S. 8.
(3) Zur Familie Elmi siehe: G. Metelli, Gli Elmi del rione Feldenghi, in: Bollettino storico della città di Foligno, XI, 1987, S. 151–162.
(4) Archivio di Stato di Foligno, Archivio Pandolfi Elmi, Inventarverzeichnis der Besitztümer Antonio Elmis, 28. Februar 1803, c. 25v.
(5) Archivio di Stato di Napoli, Notai del ’600, notaio G. D. Cotignola, Inventarverzeichnis der Besitztümer Juan de Lezcanos (1634), form. 100, prot. 47, c. 278r.
(6) M. Gallo, Orazio Borgianni pittore romano (1574–1616), op. cit., S. 116–119; A. Vannugli, La collezione del segretario Juan de Lezcano. Borgianni, Caravaggio, Reni e altri nella quadreria di un funzionario spagnolo nell’Italia del primo Seicento, Rom 2009, S. 403–407.
(7) In seinem Testament von 1615 ernannte Borgianni Castro und Lezcano zu seinen Nachlassverwaltern und vermachte Castro darüber hinaus mehrere Gemälde; siehe M. Gallo, Orazio Borgianni, l’Accademia di S. Luca e l’Accademia degli Humoristi: documenti e nuove datazioni, in: Storia dell’arte, 76, 1992, S. 296–345, S. 333–338; A. Vannugli, La collezione del segretario Juan de Lezcano, op. cit., S. 439/440.
(8) Riksarkivet, Stockholm, Azzolinosamlingen, K 450, Inventar des Magazins, Verzeichnis der Gemälde, c. 18r: vgl. T. Montanari, Il cardinale Decio Azzolino e le collezioni d’arte di Cristina di Svezia, in: Studi Secenteschi, XXXVIII, 1997, S. 187–264, S. 252, Nr. 139; E. Borsellino, La collezione d’arte del cardinale Decio Azzolino, Rom 2000, S. 87, Nr. 158; A. Vannugli, La collezione del segretario Juan de Lezcano, op. cit., S. 407.
In einem weiteren nach dem Tod erstellten Inventarverzeichnis der Gemäldegalerie, in dem die Künstlernamen oft nicht angegeben sind (sie werden allgemein als „incerto“ geführt), ist das Gemälde als „Altro quadro d’imperatore rappresentante la disputa di n.ro Signore con figura [sic] intagliata, e dorata d’Incerto“ erwähnt (ASR, Notai A.C., Laurentius Bellus, 1689, Bd. 916, cc. 712v–722v, 715r: veröffentlicht in: Borsellino, La collezione d’arte del cardinale Decio Azzolino, ebd., S. 105, Anm. 50).
(9) Besagtes Dokument, erstellt um 1667–1669 und verwahrt im Riksarkivet in Stockholm, Azzolinosamlingen, K 436, Nr. 30/8, cc. 1r–7v, ist veröffentlicht bei: Borsellino, La collezione d’arte, op. cit., S. 57–71 (Doc. 1, iA-A).
(10) Siehe T. Montanari, La dispersione delle collezioni di Cristina di Svezia. Gli Azzolino, gli Ottoboni e gli Odescalchi, in: Storia dell’arte, 90, 1997, S. 250–300. M. Epifani, „Bella e ferace d’Ingegno (se non tanto di coltura) Partenope.“ Il disegno napoletano attraverso le collezioni italiane ed europee tra Sei e Settecento, Dissertation, Università degli studi di Napoli „Federico II“, 2006/2007, S. 43: „1692 wurde des Erbe [der Königin und des Kardinals] von Marchese Pompeo Azzolino, der vermutlich bereits zahlreiche Werke in den drei Jahren davor zu Geld gemacht hatte, an Principe Don Livio Odescalchi verkauft. Nach dessen Tod 1713 wurden die Sammlungen weiter verstreut: Die Gemälde erwarb Herzog Philipp II. von Orléans, […] während die Statuen an König Philipp V. von Spanien verkauft wurden.“ Es ist bemerkenswert, dass sich weder in der Sammlung Odescalchi noch in jener des Herzogs von Orléans eine Spur von Borgiannis Disputa findet; Pompeo muss daher das Gemälde vor 1692 verkauft haben. Zur Verwandtschaft zwischen Kardinal Decio und Pompeo (der oft fälschlicherweise als dessen Neffe bezeichnet wird) siehe V. Wärnhjelm, Romolo Spezioli, medico di Cristina di Svezia, in: Settentrione, neue Reihe, 1994, S. 25–38, S. 25, Anm. 2.
(11) T. Montanari, La dispersione delle collezioni di Cristina di Svezia, op. cit, S. 272, Anm. 47.
(12) T. Montarini, Il cardinale Decio Azzolino e le collezioni d’arte di Cristina di Svezia, op. cit., S. 206–209.
(13) E. Borsellino, La collezione d’arte del cardinale Decio Azzolino, op. cit., S. 35.
(14) Archivio di Stato di Foligno, Not., Serie I, Bd. 1275, notaio B. Pagliarini, 1699, c. 543r: vgl. G. Metelli, Per la storia dei palazzi di Foligno in età barocca, in: Quaderni della Commissione Storica, IV, 1986, 2–3, S. 107.
(15) B. Lattanzi, La famiglia Roncalli, in: Bollettino storico della città di Foligno, III, 1979, S. 42–56, S. 53/54. Die Königin ernannte Ercole per Erlass vom 2. April 1689 zum „Gentiluomo Domestico“ ihres Hofes.
(16) V. Nigrisoli Wärnhjelm, Una lettera inedita del cardinale Decio Azzolino jr sulla nascita della Biblioteca Comunale di Fermo, in: Medici e medicina nelle Marche. Lo Studio Firmano e la storia della medicina. Fermo 1955–2005, Fermo 2005, S. 165–170, S. 167 (bereits veröffentlicht in: Atti della XXXVI tornata dello studio firmano per la storia dell’arte medica e della scienza, hrsg. von A. Serrani, Fermo 2002/2003, S. 185–196, S. 188).
(17) Dies erklärt die traditionelle und verallgemeinernde Zuschreibung des Gemäldes an Caravaggio, die sich auch im Elmi-Inventar von 1803 findet; es kam in Inventarverzeichnissen und bei Schätzungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts häufig vor, dass Gemälde von Künstlern aus dem sogenannten Kreis Caravaggios kurzerhand Caravaggio selbst zugeschrieben wurden.
(18) M. Gallo, Orazio Borgianni pittore romano (1574–1616), op. cit., S. 11, S. 71.
(19) M. Gallo, Orazio Borgianni pittore romano (1574–1616), op. cit., S. 116, Anm. 89.
(20) M. Gallo, Orazio Borgianni pittore romano (1574–1616), op. cit., S. 107–113.

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