Lot Nr. 715


Ilya Kabakov


Ilya Kabakov - Zeitgenössische Kunst, Teil 1

(Dnjepropetrovsk/Ukraine 1933 geb.; lebt und arbeitet in New York)
Nikolaj Petrowitsch, rückseitig signiert, datiert I. Kabakov 2004, sowie mit Beschriftungen (cyrillisch), Öl auf Leinwand, 258,2 x 184,7 cm, auf Keilrahmen

2. Version zur Werkverzeichnis-Nr. 59
Nikolaj Petrowitsch” ist ein Bestandteil der Installation Kabakovs “The Bridge” von 2004.

Ausstellung:
Sankt Petersburg, Eremitage, Incident in the Museum and Other Installations, organisiert von Guggenheim Foundation und Museum, New York, 23. Juni - 29. August 2004

Literatur:
Renate Petzinger und Emilia Kabakov (Hg.), Ilya Kabakov, Paintings/Gemälde 1957–2008, Catalogue Raisonné, Band II, Museum Wiesbaden, Kerber Verlag, 2008, Seite 230, Nr. 493 mit Abb.

In vielen Arbeiten habe ich Bilder und Texte untereinandergesetzt, die sich dem Sinn nach widersprechen. In diesem Spiel erhält jeder der beiden Teilnehmer einen neuen Sinn und eine neue Bedeutung.
Bei „Nikolai Petrowitsch“ ist die Beziehung zwischen Bild und Text tautologisch, der Text kann als Erklärung zur Zeichnung verstanden werden. Worin besteht hier die Intrige, welchen Sinn hat es, eine banale Situation zu schaffen, wo sich Abbildung und Bildunterschrift unmittelbar entsprechen? Um das weitere zu verstehen, muss ich zumindest den Anfang des Textes auf der Tafel zitieren:
„…ein stiller, grauer, kalter Herbsttag. Das Pferd war schon eingespannt, aber Nikolai Petrowitsch trödelte immer noch herum und kam einfach nicht heraus. Die Fahrt schreckte ihn nicht , der neue Weg war ihm völlig gleichgültig. Er dachte weder an die kalte Nacht noch an den Schlamm, noch an das Krachen und die üblichen Mißlichkeiten. „Na, fahren wir?“ Die Stimme seines Reisegefährten, eines hiesigen Agronomen, klang wie die Nikolais nach der kalten Nacht ein wenig heiser. Und auch Nikolai Petrowitsch fühlte sich nicht ganz wohl. „Jetzt kommt schon die Kälte, und ich bin nur im Hemd losgefahren.“, usw.Der Text geht in diesem Ton bis zum Ende weiter. Weder in den Sätzen noch im Inhalt läßt sich eine überraschende Wende oder irgendein anderer Sinn finden. Der Text ist ein monotones Schmatzen, wie Kaugummi im Mund. Nicht der leiseste Ton oder ein geheimer Sinn verleiht dem Ganzen einen höheren komischen Klang. Natürlich hat das altbekannte und deshalb auch an den Zähnen klebende Motiv der Abbildung – die Ansicht eines sibirischen Flusses – dennoch eine innere Entwicklung. Alles ist tautologisch und sich selbst gleich. Text und Bild fesseln nicht die Aufmerksamkeit und werden nicht als selbständiges, isoliertes Ganzes aufgefasst, sondern eher als Fragment von etwas anderem. Doch dieser fragmentarische Charakter ist gerade das, worauf es hier ankommt.
Das Bild präsentiert sich als Fragment von irgendetwas, das sich irgendwo außerhalb dieses, „Teils“ befindet. Auch der Text ist solch ein Fragment von irgendetwas. Er beginnt mitten im Satz und bricht ebenso unvermittelt ab. Wir kennen die Fortsetzung dieser Geschichte nicht.
Man hätte diesem in der Ausstellung gezeigten Bild vielleicht mehrere andere vor- und nachstellen können, um die narrative Kette zu schließen und den Anfang mit dem Ende zu verbinden. Aber beim Blick auf dieses Bild an der Wand sehen wir, dass wir etwas ganz Langweiliges und Banales vor uns haben, die Banalität von der oben die Rede war. Die Vermutung liegt nahe, dass sämtliche Bilder vor und nach diesem ebenso banal wären und man weder das Allererste noch das Allerletzte entdecken könnte. Die Banalität hat weder einen Anfang noch ein Ende, sie überzieht und bedeckt jede Wirklichkeit wie eine dünne Schicht und bringt alles auf einen Nenner, auf eine Oberfläche. Die Banalität ist in allen ihren Erscheinungsformen immer sich selbst gleich, jeder Teil von ihr ist dem Ganzen gleich. Deshalb wirkt ein Fragment dieser Banalität nicht wie etwas Unvollständiges, sondern repräsentiert ganz im Gegenteil alles andere.Die Banalität belegen auch Technik und Material des Bildes, „Nikolai Petrowitsch“. Es ist auf Masonite gemalt, ein Material, aus dem in der Sowjetunion der sechziger und siebziger Jahre fast alle Schautafeln, Plakatwände und Propagandatransparente gemacht wurden. Dem entsprechen die normative Malweise der anonymen Interpreten und der normative Schrifttypen des von Hand geschriebenen Textes. Kurzum, man braucht darüber nichts mehr zu sagen: Das Bild fesselt unsere Aufmerksamkeit nicht, man möchte weggehen. Dennoch glaubt man, dass man das Bild noch einmal anschauen muss. Die Natur des Fragments ist paradox, eben weil es ein Fragment ist. Unser Bewusstsein ist so beschaffen, dass wir beim Anblick eines Fragments zwangsläufig unsere Phantasie und unser Gedächtnis aktivieren. Die Banalität des Fragments erzeugt eine ganz und gar unbanale Reaktion, die darin besteht, die fehlenden Komponenten zu ergänzen, den Kontext herzustellen und schließlich zu ergründen, weshalb der Künstler ausgerechnet dieses Fragment gewählt hat. Es wird plötzlich zu einem unlösbaren, fast kriminalistischen Rätsel. Je banaler das Fragment aussieht, desto tiefere Bewusstseinsschichten werden angesprochen und desto rätselhafter erscheint das Problem, für das es keine Lösung gibt. Interessanterweise löst ein wirklich wertvolles Fragment, das Bruchstück einer alten Vase oder Plastik, keine derart merkwürdige, unbestimmte Anspannung aus wie der Ausschnitt von etwas, das allen wohlbekannt ist.
Wahrscheinlich muss man es deshalb an die Wand hängen, möglichst in einem Museum, und mit einem entsprechenden Kommentar versehen.

Ilya Kabakov Gemälde 1957-2008 Catalogue Raisonné Band 1, Essays von Robert Storr & Boris Groys, Museum Wiesbaden, Kerber Verlag, Bielefeld, 2008; Seiten 119, 406

Expertin: Mag. Patricia Pálffy Mag. Patricia Pálffy
+43-1-515 60-386

patricia.palffy@dorotheum.at

26.11.2014 - 18:00

Schätzwert:
EUR 300.000,- bis EUR 400.000,-

Ilya Kabakov


(Dnjepropetrovsk/Ukraine 1933 geb.; lebt und arbeitet in New York)
Nikolaj Petrowitsch, rückseitig signiert, datiert I. Kabakov 2004, sowie mit Beschriftungen (cyrillisch), Öl auf Leinwand, 258,2 x 184,7 cm, auf Keilrahmen

2. Version zur Werkverzeichnis-Nr. 59
Nikolaj Petrowitsch” ist ein Bestandteil der Installation Kabakovs “The Bridge” von 2004.

Ausstellung:
Sankt Petersburg, Eremitage, Incident in the Museum and Other Installations, organisiert von Guggenheim Foundation und Museum, New York, 23. Juni - 29. August 2004

Literatur:
Renate Petzinger und Emilia Kabakov (Hg.), Ilya Kabakov, Paintings/Gemälde 1957–2008, Catalogue Raisonné, Band II, Museum Wiesbaden, Kerber Verlag, 2008, Seite 230, Nr. 493 mit Abb.

In vielen Arbeiten habe ich Bilder und Texte untereinandergesetzt, die sich dem Sinn nach widersprechen. In diesem Spiel erhält jeder der beiden Teilnehmer einen neuen Sinn und eine neue Bedeutung.
Bei „Nikolai Petrowitsch“ ist die Beziehung zwischen Bild und Text tautologisch, der Text kann als Erklärung zur Zeichnung verstanden werden. Worin besteht hier die Intrige, welchen Sinn hat es, eine banale Situation zu schaffen, wo sich Abbildung und Bildunterschrift unmittelbar entsprechen? Um das weitere zu verstehen, muss ich zumindest den Anfang des Textes auf der Tafel zitieren:
„…ein stiller, grauer, kalter Herbsttag. Das Pferd war schon eingespannt, aber Nikolai Petrowitsch trödelte immer noch herum und kam einfach nicht heraus. Die Fahrt schreckte ihn nicht , der neue Weg war ihm völlig gleichgültig. Er dachte weder an die kalte Nacht noch an den Schlamm, noch an das Krachen und die üblichen Mißlichkeiten. „Na, fahren wir?“ Die Stimme seines Reisegefährten, eines hiesigen Agronomen, klang wie die Nikolais nach der kalten Nacht ein wenig heiser. Und auch Nikolai Petrowitsch fühlte sich nicht ganz wohl. „Jetzt kommt schon die Kälte, und ich bin nur im Hemd losgefahren.“, usw.Der Text geht in diesem Ton bis zum Ende weiter. Weder in den Sätzen noch im Inhalt läßt sich eine überraschende Wende oder irgendein anderer Sinn finden. Der Text ist ein monotones Schmatzen, wie Kaugummi im Mund. Nicht der leiseste Ton oder ein geheimer Sinn verleiht dem Ganzen einen höheren komischen Klang. Natürlich hat das altbekannte und deshalb auch an den Zähnen klebende Motiv der Abbildung – die Ansicht eines sibirischen Flusses – dennoch eine innere Entwicklung. Alles ist tautologisch und sich selbst gleich. Text und Bild fesseln nicht die Aufmerksamkeit und werden nicht als selbständiges, isoliertes Ganzes aufgefasst, sondern eher als Fragment von etwas anderem. Doch dieser fragmentarische Charakter ist gerade das, worauf es hier ankommt.
Das Bild präsentiert sich als Fragment von irgendetwas, das sich irgendwo außerhalb dieses, „Teils“ befindet. Auch der Text ist solch ein Fragment von irgendetwas. Er beginnt mitten im Satz und bricht ebenso unvermittelt ab. Wir kennen die Fortsetzung dieser Geschichte nicht.
Man hätte diesem in der Ausstellung gezeigten Bild vielleicht mehrere andere vor- und nachstellen können, um die narrative Kette zu schließen und den Anfang mit dem Ende zu verbinden. Aber beim Blick auf dieses Bild an der Wand sehen wir, dass wir etwas ganz Langweiliges und Banales vor uns haben, die Banalität von der oben die Rede war. Die Vermutung liegt nahe, dass sämtliche Bilder vor und nach diesem ebenso banal wären und man weder das Allererste noch das Allerletzte entdecken könnte. Die Banalität hat weder einen Anfang noch ein Ende, sie überzieht und bedeckt jede Wirklichkeit wie eine dünne Schicht und bringt alles auf einen Nenner, auf eine Oberfläche. Die Banalität ist in allen ihren Erscheinungsformen immer sich selbst gleich, jeder Teil von ihr ist dem Ganzen gleich. Deshalb wirkt ein Fragment dieser Banalität nicht wie etwas Unvollständiges, sondern repräsentiert ganz im Gegenteil alles andere.Die Banalität belegen auch Technik und Material des Bildes, „Nikolai Petrowitsch“. Es ist auf Masonite gemalt, ein Material, aus dem in der Sowjetunion der sechziger und siebziger Jahre fast alle Schautafeln, Plakatwände und Propagandatransparente gemacht wurden. Dem entsprechen die normative Malweise der anonymen Interpreten und der normative Schrifttypen des von Hand geschriebenen Textes. Kurzum, man braucht darüber nichts mehr zu sagen: Das Bild fesselt unsere Aufmerksamkeit nicht, man möchte weggehen. Dennoch glaubt man, dass man das Bild noch einmal anschauen muss. Die Natur des Fragments ist paradox, eben weil es ein Fragment ist. Unser Bewusstsein ist so beschaffen, dass wir beim Anblick eines Fragments zwangsläufig unsere Phantasie und unser Gedächtnis aktivieren. Die Banalität des Fragments erzeugt eine ganz und gar unbanale Reaktion, die darin besteht, die fehlenden Komponenten zu ergänzen, den Kontext herzustellen und schließlich zu ergründen, weshalb der Künstler ausgerechnet dieses Fragment gewählt hat. Es wird plötzlich zu einem unlösbaren, fast kriminalistischen Rätsel. Je banaler das Fragment aussieht, desto tiefere Bewusstseinsschichten werden angesprochen und desto rätselhafter erscheint das Problem, für das es keine Lösung gibt. Interessanterweise löst ein wirklich wertvolles Fragment, das Bruchstück einer alten Vase oder Plastik, keine derart merkwürdige, unbestimmte Anspannung aus wie der Ausschnitt von etwas, das allen wohlbekannt ist.
Wahrscheinlich muss man es deshalb an die Wand hängen, möglichst in einem Museum, und mit einem entsprechenden Kommentar versehen.

Ilya Kabakov Gemälde 1957-2008 Catalogue Raisonné Band 1, Essays von Robert Storr & Boris Groys, Museum Wiesbaden, Kerber Verlag, Bielefeld, 2008; Seiten 119, 406

Expertin: Mag. Patricia Pálffy Mag. Patricia Pálffy
+43-1-515 60-386

patricia.palffy@dorotheum.at


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
kundendienst@dorotheum.at

+43 1 515 60 200
Auktion: Zeitgenössische Kunst, Teil 1
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 26.11.2014 - 18:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 15.11. - 26.11.2014

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