Lot Nr. 1178


Friedrich Christian Nerly


Friedrich Christian Nerly - Gemälde des 19. Jahrhunderts

(Erfurt 1807–1878 Venedig) Partie aus Venedig, signiert F. Nerly, rückseitig eigenhändig bezeichnet F. Nerly, Venezia, Öl auf Leinwand, 60 x 97 cm, gerahmt, (Rei)

Friedrich Christian Nerly kam nach dem Tod des Vaters frühzeitig zu Verwandten nach Hamburg. Er wurde durch den Maler H. J. Herterich und seinen Gönner, den Freiherr Carl Friedrich von Rumohr, gefördert und selbst im Malen unterrichtet. 1828 reisten sie nach Italien und hielten sich bis 1835 in Rom auf. Nerly war Mitbegründer des römischen Kunstvereins, Mitglied und Generalissimus der Ponte-Molle-Gesellschaft, Mitbegründer des deutschen Künstleralbums (1834) und Leiter der Cervarofeste bis 1835. Ab 1835 lebte Nerly in Venedig, wo er abgesehen von Reisen, bis zu seinem Tod blieb. Er spezialisierte sich auf die venezianische Vedute (Vgl. Thieme-Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, Bd. 25, Leipzig 1931, 391 und 392).

Wir danken Dr. Wolfram Morath-Vogel (Kulturdirektion Erfurt) für die Bestätigung der Echtheit des Gemäldes nach Prüfung des Originals.

Gutachten Dr. Wolfram Morath-Vogel, September 2013:

FRIEDRICH NERLY (Erfurt 1807 – 1878 Venedig)
Blick über das Bacino di San Marco auf den Dogenpalast und die Riva degli Schiavoni in Venedig, Öl auf Leinwand, 60 x 100 cm, nicht doubliert
Signiert im Vordergrund links auf der Bordkante am Heck des ersten Bootes: F. Nerly [oder Nerlÿ]
Rückseitig eigenhändig beschriftet: F. Nerlÿ / Venezia
Undatiert

Das vorliegende Gemälde habe ich im August 2013 im Original untersucht. Es handelt sich meiner Überzeugung nach um ein Werk von Friedrich Nerly (1807 – 1878), das seiner allerletzten, künstlerisch ausgesprochen problematischen Schaffenszeit zuzurechnen ist.

Von einem etwa in Höhe der Dogana da Mar gelegenen Standpunkt aus entwickelt der Maler in einer gleichsam weitwinkligen Aufnahme ein 'bildschönes' Panorama der Lagunenstadt: Der Blick schweift vom Campanile di San Marco im Herzen der Stadt über die Markuskuppeln, die Libreria Sansovinos und den Palazzo Ducale entlang der Riva degli Schiavoni mit San Giorgio dei Greci im Hintergrund, welcher mit weiteren Türmen bekannter Sakralbauten als reich gegliederte Silhouette ausgeformt ist, bis hin zum ehemaligen Patriarchensitz San Pietro di Castello am rechten Bildrand. In der räumlich und planimetrisch dicht verzahnten Abfolge von Türmen, Kuppeln und Palastfronten, von hell erleuchteten, plastisch gesehenen und flächig

wahrgenommenen, verschatteten Partien, in der Verbindung von fein ausdifferenzierter Architekturzeichnung mit dem großen Atem der weiträumigen Zusammenschau zeigt sich das Können des erfahrenen Panoramatikers. Während die geometrische Bildmitte unbetont bleibt, veranschaulicht das motivisch ausponderierte Zueinander von Campanile links und großem Segler rechts das Equilibristische der Stadt auf dem Wasser, das wie ein großer Platz vor dem Erscheinungshaften der Stadt deren schimmerndes Entrée bildet. Das majestätische Wolkengeschiebe rechts im Bild, dessen Schatten die Stadtsilhouette darunter streift und verdunkelt, macht dem Betrachter die Ruhe und zugleich die ozeanische Weite des Raumes fühlbar. Ein großartiger Anblick, in der Tat! Steht der bauliche Komplex von Campanile, Markuskuppeln und Palazzo Ducale für die geschichtliche Größe der Serenissima, so das Schiff mit vollen Segeln für die vormalige Königin der Meere. Nostalgismen dieser Art sind kennzeichnend für das Spätwerk Nerlys, der wie mancher seiner Generationsgenossen (z. B. seine Jugendfreunde Otto Speckter in Hamburg oder Carl Julius Milde in Lübeck) seine Kunst nicht nur in den Dienst der Entdeckungen des Auges stellte, sondern - in Übereinstimmung mit den historistischen Tendenzen der Zeit - als Maler auch eine denkmalpflegerische Haltung kultivierte.

Nerly zeigt die von ihm gleichsam auswendig gelernte Stadt im Tageslicht, und nicht - wie so oft - als Notturno bei Vollmond. Eine Seltenheit ist das jedoch nicht; selbst vom Klassiker seiner Kunst, der Piazzetta bei Mondschein, gibt es mindestens eine gleichartige Komposition bei Tageslicht. Venedig war ihm eine Art Persönlichkeit, die er in allen erdenklichen Facetten mit nicht minder tiefer Insistenz verehrte als Josef Albers das Quadrat. - Dem Bild liegt eine Konzeption zugrunde, die Nerly seit dem ersten Kennenlernen Venedigs 1837 (und seinem nahtlos folgenden Entschluß zu bleiben) ziemlich umgehend entwickelt hat. Venedig war fortan Zentralgegenstand seiner darstellerischen Ambition und blieb es durch vier volle Jahrzehnte, bis zu Nerlys Tod im Oktober 1878. Dabei hielt er seine Kunst aber nicht frei von Kompromissen; zunächst aus ökonomischen Gründen. Nach der Eheschließung mit der in aristokratischen Verhältnissen aufgewachsenen und diese Verhältnisse gewohnten, aber wegen der Heirat mit einem bürgerlichen Maler enterbten Adoptivtochter des Marchese Maruzzi mußte Nerly, der nie eine Werkstatt mit ständigen Mitarbeitern unterhielt, nach eigenem Bekunden besonders viel arbeiten, um den Lebensstandard aufrecht zu  erhalten. Gefragte Kompositionen wurden häufig mit geringen Variationen wiederholt, nicht immer zum Vorteil der gestalterischen Durchdringung des Gegenstandes, und so hat Nerly neben großartigen Verdichtungen des anschaulichen Phänomens der unvergleichlichen Stadt nicht zum wenigsten auch das befördert, was man den touristischen Blick auf Venedig nennen muß. Der Spätromantiker liebte vor allem die Traumschönheit der Stadt (von daher auch die oftmals inszenierte und tief bezaubernde Analogie zwischen den Dämmerstunden des tageszeitlichen Übergangs und dem amphibischen Charakter Venedigs), er litt unter den unmittelbar tagesaktuellen Veränderungen wie der Einführung der Gasbeleuchtung, den modernen Instandsetzungen alter Paläste und der Dampfschiffahrt, und er hielt an der einmal erarbeiteten Konzeption seines Venedigbildes noch fest, als dieses längst selbst geschichtlich geworden war. An den Bestrebungen der Jüngeren, die noch zu seinen Lebzeiten in Venedig antreffbar waren (von Oswald Achenbach und Max Liebermann bis zu Gustav Schönleber und Carl Schuch) und die ihn, den täglichen Gast im Café Florian, zumindest vom Sehen sicher alle kannten, nahm der sonst so kommunikationsfreudige und gesellschaftlich bestens vernetzte Nerly keinen Anteil. Als die Karawane längst weitergezogen war, suchte Nerly, gründlich vereinsamt, ein von Segelschiffen angelaufenes Venedig zu beschwören, das den tempi passati anheimgefallen, aber ihm noch beglückende Gegenwart gewesen war. Mehr und mehr läßt sich im Schaffen des späten Nerly aber auch ein Auseinandertreten von Vision und malerischer Faktur beobachten und manches Mal entsteht ein Resultat hart am unglaubhaft Theatralischen, ja am Kitsch. (Kitsch und artistische Meisterschaft schließen einander keineswegs aus.) Die unstreitige Qualität des bildlichen Entwurfs und die malerische Realisation gehen im Spätwerk nur noch selten ineinander auf. Auch das in Rede stehende Bild ist davon betroffen. So sehr, daß man im ersten Moment Zweifel an der eigenhändigen Ausführung hegen kann. Gewiß, Nerly wurde etwa seit der Jahrhundertmitte nachweislich kopiert (z. B. von Ippolito Caffi), aber, soweit bis heute bekannt, nicht gefälscht. Sein Sohn, der Maler Friedrich ["Federico"] Paul Nerly (Venedig 1842 - 1919 Rom) war ein vom Vater ausgebildeter Landschafter, aber kein dem Vater vergleichbar virtuoser Architektur- und Figurenzeichner, der als Maler gegenüber seinem Vater, ohne dessen Bedeutung je zu erreichen, erkennbar eigenes, wiewohl noch unzureichend erforschtes Profil gewann. Das vorliegende Bild ist beim gegenwärtigen Kenntnisstand nicht für den jüngeren Nerly und sein vergleichsweise viel moderner orientiertes Ausdrucksziel in Anspruch zu nehmen, vielmehr erweist es, überschattet von der unvermeidlichen Tragik des Rückblickenden, den alten vedutisti Venedigs seit den Tagen Michele Marieschis,

Canalettos und Guardis eine letzte, eine allzu späte und brüchig gewordene Reverenz. Eine gerechte Wertschätzung von Leistungen dieses Zuschnitts kann nicht erfolgen, wenn man sie den apodiktischen Maßstäben der Entwicklungsdynamik unterwirft, die das gängige Bild der Kunstgeschichtsschreibung beherrschen (hier sind die Negativbewertungen notorisch), vielmehr behalten sie ihren Rang im Licht einer bisher noch kaum entfalteten Kulturanthropologie, die auch dem Ethos des Bewahrenwollens, das mit den ästhetischen Forderungen der eigenen Zeit in Zwiespalt geraten kann, sein Recht läßt. 

Erfurt, im September 2013

Literatur:

„Römische Tage – Venezianische Nächte. Friedrich Nerly zum 200. Geburtstag“, herausgegeben von Wolfram Morath-Vogel (Katalogbuch zur Ausstellung in Dessau, Lübeck und Paderborn 2007/08)
"Venedig Bilder in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts", hg. von der Stadt Karlsruhe (Städtische Galerie), Petersberg (Michael Imhof Verlag) 2010 (Katalogbuch zur Ausstellung in Karlsruhe und Paderborn 2010/11)
Erich Hubala: Venedig (Reclams Kunstführer Italien, hg. v. Manfred Wundram, Band II, 1), Stuttgart 21974
Gerda Rob: Venedig (ADAC Reiseführer), München 32003
Julia M. Nauhaus: "Nerly - Vater & Sohn", in: Sammlerjournal, Juli 2011, pp. 86 - 91

Expertin: Mag. Dimitra Reimüller Mag. Dimitra Reimüller
+43-1-515 60-355

19c.paintings@dorotheum.at

16.10.2013 - 18:00

Erzielter Preis: **
EUR 85.700,-
Schätzwert:
EUR 80.000,- bis EUR 120.000,-

Friedrich Christian Nerly


(Erfurt 1807–1878 Venedig) Partie aus Venedig, signiert F. Nerly, rückseitig eigenhändig bezeichnet F. Nerly, Venezia, Öl auf Leinwand, 60 x 97 cm, gerahmt, (Rei)

Friedrich Christian Nerly kam nach dem Tod des Vaters frühzeitig zu Verwandten nach Hamburg. Er wurde durch den Maler H. J. Herterich und seinen Gönner, den Freiherr Carl Friedrich von Rumohr, gefördert und selbst im Malen unterrichtet. 1828 reisten sie nach Italien und hielten sich bis 1835 in Rom auf. Nerly war Mitbegründer des römischen Kunstvereins, Mitglied und Generalissimus der Ponte-Molle-Gesellschaft, Mitbegründer des deutschen Künstleralbums (1834) und Leiter der Cervarofeste bis 1835. Ab 1835 lebte Nerly in Venedig, wo er abgesehen von Reisen, bis zu seinem Tod blieb. Er spezialisierte sich auf die venezianische Vedute (Vgl. Thieme-Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, Bd. 25, Leipzig 1931, 391 und 392).

Wir danken Dr. Wolfram Morath-Vogel (Kulturdirektion Erfurt) für die Bestätigung der Echtheit des Gemäldes nach Prüfung des Originals.

Gutachten Dr. Wolfram Morath-Vogel, September 2013:

FRIEDRICH NERLY (Erfurt 1807 – 1878 Venedig)
Blick über das Bacino di San Marco auf den Dogenpalast und die Riva degli Schiavoni in Venedig, Öl auf Leinwand, 60 x 100 cm, nicht doubliert
Signiert im Vordergrund links auf der Bordkante am Heck des ersten Bootes: F. Nerly [oder Nerlÿ]
Rückseitig eigenhändig beschriftet: F. Nerlÿ / Venezia
Undatiert

Das vorliegende Gemälde habe ich im August 2013 im Original untersucht. Es handelt sich meiner Überzeugung nach um ein Werk von Friedrich Nerly (1807 – 1878), das seiner allerletzten, künstlerisch ausgesprochen problematischen Schaffenszeit zuzurechnen ist.

Von einem etwa in Höhe der Dogana da Mar gelegenen Standpunkt aus entwickelt der Maler in einer gleichsam weitwinkligen Aufnahme ein 'bildschönes' Panorama der Lagunenstadt: Der Blick schweift vom Campanile di San Marco im Herzen der Stadt über die Markuskuppeln, die Libreria Sansovinos und den Palazzo Ducale entlang der Riva degli Schiavoni mit San Giorgio dei Greci im Hintergrund, welcher mit weiteren Türmen bekannter Sakralbauten als reich gegliederte Silhouette ausgeformt ist, bis hin zum ehemaligen Patriarchensitz San Pietro di Castello am rechten Bildrand. In der räumlich und planimetrisch dicht verzahnten Abfolge von Türmen, Kuppeln und Palastfronten, von hell erleuchteten, plastisch gesehenen und flächig

wahrgenommenen, verschatteten Partien, in der Verbindung von fein ausdifferenzierter Architekturzeichnung mit dem großen Atem der weiträumigen Zusammenschau zeigt sich das Können des erfahrenen Panoramatikers. Während die geometrische Bildmitte unbetont bleibt, veranschaulicht das motivisch ausponderierte Zueinander von Campanile links und großem Segler rechts das Equilibristische der Stadt auf dem Wasser, das wie ein großer Platz vor dem Erscheinungshaften der Stadt deren schimmerndes Entrée bildet. Das majestätische Wolkengeschiebe rechts im Bild, dessen Schatten die Stadtsilhouette darunter streift und verdunkelt, macht dem Betrachter die Ruhe und zugleich die ozeanische Weite des Raumes fühlbar. Ein großartiger Anblick, in der Tat! Steht der bauliche Komplex von Campanile, Markuskuppeln und Palazzo Ducale für die geschichtliche Größe der Serenissima, so das Schiff mit vollen Segeln für die vormalige Königin der Meere. Nostalgismen dieser Art sind kennzeichnend für das Spätwerk Nerlys, der wie mancher seiner Generationsgenossen (z. B. seine Jugendfreunde Otto Speckter in Hamburg oder Carl Julius Milde in Lübeck) seine Kunst nicht nur in den Dienst der Entdeckungen des Auges stellte, sondern - in Übereinstimmung mit den historistischen Tendenzen der Zeit - als Maler auch eine denkmalpflegerische Haltung kultivierte.

Nerly zeigt die von ihm gleichsam auswendig gelernte Stadt im Tageslicht, und nicht - wie so oft - als Notturno bei Vollmond. Eine Seltenheit ist das jedoch nicht; selbst vom Klassiker seiner Kunst, der Piazzetta bei Mondschein, gibt es mindestens eine gleichartige Komposition bei Tageslicht. Venedig war ihm eine Art Persönlichkeit, die er in allen erdenklichen Facetten mit nicht minder tiefer Insistenz verehrte als Josef Albers das Quadrat. - Dem Bild liegt eine Konzeption zugrunde, die Nerly seit dem ersten Kennenlernen Venedigs 1837 (und seinem nahtlos folgenden Entschluß zu bleiben) ziemlich umgehend entwickelt hat. Venedig war fortan Zentralgegenstand seiner darstellerischen Ambition und blieb es durch vier volle Jahrzehnte, bis zu Nerlys Tod im Oktober 1878. Dabei hielt er seine Kunst aber nicht frei von Kompromissen; zunächst aus ökonomischen Gründen. Nach der Eheschließung mit der in aristokratischen Verhältnissen aufgewachsenen und diese Verhältnisse gewohnten, aber wegen der Heirat mit einem bürgerlichen Maler enterbten Adoptivtochter des Marchese Maruzzi mußte Nerly, der nie eine Werkstatt mit ständigen Mitarbeitern unterhielt, nach eigenem Bekunden besonders viel arbeiten, um den Lebensstandard aufrecht zu  erhalten. Gefragte Kompositionen wurden häufig mit geringen Variationen wiederholt, nicht immer zum Vorteil der gestalterischen Durchdringung des Gegenstandes, und so hat Nerly neben großartigen Verdichtungen des anschaulichen Phänomens der unvergleichlichen Stadt nicht zum wenigsten auch das befördert, was man den touristischen Blick auf Venedig nennen muß. Der Spätromantiker liebte vor allem die Traumschönheit der Stadt (von daher auch die oftmals inszenierte und tief bezaubernde Analogie zwischen den Dämmerstunden des tageszeitlichen Übergangs und dem amphibischen Charakter Venedigs), er litt unter den unmittelbar tagesaktuellen Veränderungen wie der Einführung der Gasbeleuchtung, den modernen Instandsetzungen alter Paläste und der Dampfschiffahrt, und er hielt an der einmal erarbeiteten Konzeption seines Venedigbildes noch fest, als dieses längst selbst geschichtlich geworden war. An den Bestrebungen der Jüngeren, die noch zu seinen Lebzeiten in Venedig antreffbar waren (von Oswald Achenbach und Max Liebermann bis zu Gustav Schönleber und Carl Schuch) und die ihn, den täglichen Gast im Café Florian, zumindest vom Sehen sicher alle kannten, nahm der sonst so kommunikationsfreudige und gesellschaftlich bestens vernetzte Nerly keinen Anteil. Als die Karawane längst weitergezogen war, suchte Nerly, gründlich vereinsamt, ein von Segelschiffen angelaufenes Venedig zu beschwören, das den tempi passati anheimgefallen, aber ihm noch beglückende Gegenwart gewesen war. Mehr und mehr läßt sich im Schaffen des späten Nerly aber auch ein Auseinandertreten von Vision und malerischer Faktur beobachten und manches Mal entsteht ein Resultat hart am unglaubhaft Theatralischen, ja am Kitsch. (Kitsch und artistische Meisterschaft schließen einander keineswegs aus.) Die unstreitige Qualität des bildlichen Entwurfs und die malerische Realisation gehen im Spätwerk nur noch selten ineinander auf. Auch das in Rede stehende Bild ist davon betroffen. So sehr, daß man im ersten Moment Zweifel an der eigenhändigen Ausführung hegen kann. Gewiß, Nerly wurde etwa seit der Jahrhundertmitte nachweislich kopiert (z. B. von Ippolito Caffi), aber, soweit bis heute bekannt, nicht gefälscht. Sein Sohn, der Maler Friedrich ["Federico"] Paul Nerly (Venedig 1842 - 1919 Rom) war ein vom Vater ausgebildeter Landschafter, aber kein dem Vater vergleichbar virtuoser Architektur- und Figurenzeichner, der als Maler gegenüber seinem Vater, ohne dessen Bedeutung je zu erreichen, erkennbar eigenes, wiewohl noch unzureichend erforschtes Profil gewann. Das vorliegende Bild ist beim gegenwärtigen Kenntnisstand nicht für den jüngeren Nerly und sein vergleichsweise viel moderner orientiertes Ausdrucksziel in Anspruch zu nehmen, vielmehr erweist es, überschattet von der unvermeidlichen Tragik des Rückblickenden, den alten vedutisti Venedigs seit den Tagen Michele Marieschis,

Canalettos und Guardis eine letzte, eine allzu späte und brüchig gewordene Reverenz. Eine gerechte Wertschätzung von Leistungen dieses Zuschnitts kann nicht erfolgen, wenn man sie den apodiktischen Maßstäben der Entwicklungsdynamik unterwirft, die das gängige Bild der Kunstgeschichtsschreibung beherrschen (hier sind die Negativbewertungen notorisch), vielmehr behalten sie ihren Rang im Licht einer bisher noch kaum entfalteten Kulturanthropologie, die auch dem Ethos des Bewahrenwollens, das mit den ästhetischen Forderungen der eigenen Zeit in Zwiespalt geraten kann, sein Recht läßt. 

Erfurt, im September 2013

Literatur:

„Römische Tage – Venezianische Nächte. Friedrich Nerly zum 200. Geburtstag“, herausgegeben von Wolfram Morath-Vogel (Katalogbuch zur Ausstellung in Dessau, Lübeck und Paderborn 2007/08)
"Venedig Bilder in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts", hg. von der Stadt Karlsruhe (Städtische Galerie), Petersberg (Michael Imhof Verlag) 2010 (Katalogbuch zur Ausstellung in Karlsruhe und Paderborn 2010/11)
Erich Hubala: Venedig (Reclams Kunstführer Italien, hg. v. Manfred Wundram, Band II, 1), Stuttgart 21974
Gerda Rob: Venedig (ADAC Reiseführer), München 32003
Julia M. Nauhaus: "Nerly - Vater & Sohn", in: Sammlerjournal, Juli 2011, pp. 86 - 91

Expertin: Mag. Dimitra Reimüller Mag. Dimitra Reimüller
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kundendienst@dorotheum.at

+43 1 515 60 200
Auktion: Gemälde des 19. Jahrhunderts
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 16.10.2013 - 18:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 05.10. - 16.10.2013


** Kaufpreis inkl. Käufergebühr und Mehrwertsteuer

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