Lot Nr. 559


Giovanni Francesco Barbieri, il Guercino (Cento 1591 – 1666 Bologna)


Giovanni Francesco Barbieri, il Guercino (Cento 1591 – 1666 Bologna) - Alte Meister

Amor, auf einer Mauer sitzend, Öl auf Leinwand, 51,5 x 39 cm, gerahmt

Wir danken Nicholas Turner, der die Zuschreibung des vorliegenden Gemäldes nach dessen Prüfung im Original bestätigt hat.

In diesem bis dato unpublizierten Gemälde sitzt der ungeflügelte Amor auf einem mit einem weiß Tuch drapierten Steinsims an einer Wand. Er hat gerade einen Pfeil abgeschossen und blickt schelmisch in die Ferne, vermutlich um zu sehen, ob er sein Ziel getroffen hat. Neben ihm auf dem Sims liegt ein weiterer Pfeil, der für ein anderes Opfer bestimmt ist. Die rundliche Knabengestalt, die so charakteristisch für die Putti und Engel Guercinos früher Bilder ist, wurde mit nur leichten Abwandlungen in Beleuchtung und Haltung von der Figur des Jesuskindes im Gemälde Der hl. Wilhelm empfängt die Mönchskutte übernommen, Guercinos berühmtem Altarbild aus seiner vorrömischen Zeit, das er 1620 für die Locatelli-Kapelle in S. Gregorio in Bologna gemalt hatte und das sich heute in der Pinacoteca Nazionale befindet (Abb. 1, Ausschnitt).(1) 

Auf dem Altarbild thront der Jesusknabe ebenfalls auf einem weißen Tuch auf dem Schoß der Mutter sitzend im Himmel. Er hält den beiden Heiligen in den Wolken oben rechts, die allgemein als hl. Josef und hl. Jakob identifiziert werden, ein kleines Holzkreuz entgegen. Als eine Art „Ausgliederung“ aus diesem großformatigen Bild bildet Amor hier ein davon unabhängiges, für sich stehendes Werk. Die Gestalt deckt sich in der Größe höchstwahrscheinlich genau mit ihrem Gegenpart im Altarbild. Wenn dem so ist – was stark anzunehmen ist –, muss die Figur von einer Pause übertragen worden sein, die von dem Altarbild gemacht wurde, als es sich noch in der Werkstatt befand.

Die Uminterpretation des Jesuskindes in einen Amor ist ein gewagter Gedankensprung, der typisch für Guercinos Bilderfindungen ist. Die geschickte Verschiebung der Ikonografie wurde erreicht, indem das Kreuz gegen einen Bogen ausgetauscht und ein weiterer Pfeil auf dem Sims hinzugefügt wurde, wobei das rötlichblonde Haar des Jesuskindes dem pechschwarzen Amors gewichen ist – einer Farbe, die dem Unruhe stiftenden Gesellen besser entspricht. Auf dem Altarbild des hl. Wilhelms stützt die Jungfrau ihren jungen Sohn, indem sie mit ihrer Linken seinen linken Arm hält; hier jedoch liegt die linke Seite Amors in tiefem Schatten, sodass das Fehlen ihrer Hand nicht ins Gewicht fällt. Eine der auffälligsten Veränderungen betrifft die Haltung der Beine Amors, der sein rechtes Knie deutlich höher hebt und dessen Knie sich daher ungefähr auf einer Höhe befinden, anstatt nach links abzufallen wie die des Jesuskindes.

Guercino hat den Amor zügig und sicher festgehalten, wobei sein kraftvoller Pinselstrich Furchen in der dick aufgetragenen Farbe hinterlassen hat, etwa im rechten Knie und oberen Schienbein sowie im linken Schienbein Amors. Auch im Gesicht und im Faltenwurf ist der Pinselstrich wunderschön sichtbar. Die verwischten Randzonen von Amors blassem Körper, die auf den dunklen Hintergrund treffen, suggerieren eine subtile Dämmerstimmung, wie sie keinem Nachfolger zuzutrauen wäre. Eine Reihe von Pentimenti bezeugt Guercinos Prozess der Bildfindung; am augenscheinlichsten ist hier der mehrmals gezogene Umriss im oberen Bereich von Amors Oberschenkel, der zuerst noch höher angesetzt war. Der vorherrschende Einfluss auf das Bild kommt vom Bologneser Maler Ludovico Carracci, während auch Tizian, dem der junge Guercino die gedämpfte Farbigkeit und die lebendigen Oberflächenstrukturen schuldet, eine wichtige Inspirationsquelle darstellt.

Der Amor ist nicht das einzige Beispiel aus Guercinos vorrömischer Zeit, bei dem eine Figur aus dem ursprünglichen Bildzusammenhang einer weiter gefassten Komposition gelöst und dann erfolgreich für ein kleineres eigenständiges Werk übernommen wurde. Von ihrem früheren Umfeld befreit, erhält die Figur eine neue Identität. Derartige Ausgliederungen ermöglichten es Guercino, sich zu dem Honorar, das er für seine größeren und damit teureren Bilder bekam, noch etwas dazuzuverdienen. Ein gutes Beispiel für diese Vorgangsweise, die Guercino offenbar nach seiner römischen Periode (1621–23) aufgab, ist die Adaption von Lazarus’ Schwester aus der Erweckung des Lazarus (um 1619, Louvre, Paris) zu einer Maria Magdalena; besagtes Gemälde, das sich einst in der Suida Manning Collection in New York befand, wird heute im Jack S. Blanton Museum in Austin, Texas, aufbewahrt wird.(2) Um diese Umwandlung herbeizuführen, wurde die Maria Magdalena halb hinter einem Steinblock platziert, wo ihre Hand auf dem darauf befindlichen Totenschädel ruht. Der Einschätzung Mahons folgend wird das Bild in Austin allgemein um 1624/25 datiert, doch es mag auch schon früher entstanden sein, in größerer zeitlicher Nähe zur Erweckung des Lazarus, die als Vorlage für die Figur gedient hat.(3)

Wir danken Nicholas Turner für die Katalogisierung des vorliegenden Gemäldes.

Anmerkungen:

1 L. Salerno, I dipinti del Guercino, Rom 1988, S. 148/49, Nr. 69; und D. Mahon, „Catalogo critico“, in: Giovanni Francesco Barbieri Il Guercino 1591–1666, Ausst. Kat., Museo Civico Archeologico, Bologna, und Pinacoteca Civica und Chiesa del Rosario, Cento, September bis November 1991, S. 128–131, Nr. 45. 

2 Eine weitere mögliche „Ausgliederung“ ist die der halbfigurigen Sibylle von 1619 in der Sammlung des verstorbenen Sir Denis Mahon, heute als Leihgabe in der Pinacoteca Nazionale, Bologna (Salerno 1988, S. 132). Die Haltung der Sibylle ist identisch mit jener einer der Sebastian pflegenden Frauen des Gemäldes Die Versorgung der Wunden des hl. Sebastian in der Pinacoteca Nazionale, Bologna (Salerno 1988, S. 131, Nr. 54; Mahon 1991, S. 110/11, Nr. 37). Dort hält die Frau ein mit Wasser gefülltes Becken in ihrer Linken, während sie mit der Rechten einen Schwamm ausdrückt, mit dem sie im Begriff ist, die Wunden des jungen Mannes zu reinigen. Auf dem Bild in der Sammlung

Mahon hält die Sibylle in der Rechten eine Schriftrolle statt des Schwamms, während die Linke geöffnet ist, anstatt ein Becken zu tragen. Die halbfigurige Sibylle zeigt nicht denselben Grad an Vollendung wie ihr Vorbild, doch meiner Ansicht nach rechtfertigt dies nicht Mahons Behauptung, sie wäre bloß eine Skizze für die gleich große Frauengestalt im Sebastian-Bild. Die andere Identität, die Guercino „wiederverwerteten“ Figuren wie dem Amor oder der Maria Magdalena verleiht, lässt den Schluss zu, dass die halbfigurige Sybille nach ihrem Gegenpart entstanden ist. Zweifellos wurde sie unvollendet gelassen, weil Guercino wohl zuwarten wollte, bis ein Kunde bereit war, für die Fertigstellung des Bildes zu bezahlen oder es so zu nehmen, wie es war.

3 Die beiden Figuren stimmen in Farbigkeit und Größe stark überein; es ist schwer vorstellbar, dass dies zu einem Zeitpunkt hätte gelingen können, als die Erweckung des Lazarus bereits an Kardinal Serra (1570–1623), dem wahrscheinlichen Empfänger des Bildes, verschickt gewesen war.

17.10.2012 - 18:00

Erzielter Preis: **
EUR 55.200,-
Schätzwert:
EUR 50.000,- bis EUR 70.000,-

Giovanni Francesco Barbieri, il Guercino (Cento 1591 – 1666 Bologna)


Amor, auf einer Mauer sitzend, Öl auf Leinwand, 51,5 x 39 cm, gerahmt

Wir danken Nicholas Turner, der die Zuschreibung des vorliegenden Gemäldes nach dessen Prüfung im Original bestätigt hat.

In diesem bis dato unpublizierten Gemälde sitzt der ungeflügelte Amor auf einem mit einem weiß Tuch drapierten Steinsims an einer Wand. Er hat gerade einen Pfeil abgeschossen und blickt schelmisch in die Ferne, vermutlich um zu sehen, ob er sein Ziel getroffen hat. Neben ihm auf dem Sims liegt ein weiterer Pfeil, der für ein anderes Opfer bestimmt ist. Die rundliche Knabengestalt, die so charakteristisch für die Putti und Engel Guercinos früher Bilder ist, wurde mit nur leichten Abwandlungen in Beleuchtung und Haltung von der Figur des Jesuskindes im Gemälde Der hl. Wilhelm empfängt die Mönchskutte übernommen, Guercinos berühmtem Altarbild aus seiner vorrömischen Zeit, das er 1620 für die Locatelli-Kapelle in S. Gregorio in Bologna gemalt hatte und das sich heute in der Pinacoteca Nazionale befindet (Abb. 1, Ausschnitt).(1) 

Auf dem Altarbild thront der Jesusknabe ebenfalls auf einem weißen Tuch auf dem Schoß der Mutter sitzend im Himmel. Er hält den beiden Heiligen in den Wolken oben rechts, die allgemein als hl. Josef und hl. Jakob identifiziert werden, ein kleines Holzkreuz entgegen. Als eine Art „Ausgliederung“ aus diesem großformatigen Bild bildet Amor hier ein davon unabhängiges, für sich stehendes Werk. Die Gestalt deckt sich in der Größe höchstwahrscheinlich genau mit ihrem Gegenpart im Altarbild. Wenn dem so ist – was stark anzunehmen ist –, muss die Figur von einer Pause übertragen worden sein, die von dem Altarbild gemacht wurde, als es sich noch in der Werkstatt befand.

Die Uminterpretation des Jesuskindes in einen Amor ist ein gewagter Gedankensprung, der typisch für Guercinos Bilderfindungen ist. Die geschickte Verschiebung der Ikonografie wurde erreicht, indem das Kreuz gegen einen Bogen ausgetauscht und ein weiterer Pfeil auf dem Sims hinzugefügt wurde, wobei das rötlichblonde Haar des Jesuskindes dem pechschwarzen Amors gewichen ist – einer Farbe, die dem Unruhe stiftenden Gesellen besser entspricht. Auf dem Altarbild des hl. Wilhelms stützt die Jungfrau ihren jungen Sohn, indem sie mit ihrer Linken seinen linken Arm hält; hier jedoch liegt die linke Seite Amors in tiefem Schatten, sodass das Fehlen ihrer Hand nicht ins Gewicht fällt. Eine der auffälligsten Veränderungen betrifft die Haltung der Beine Amors, der sein rechtes Knie deutlich höher hebt und dessen Knie sich daher ungefähr auf einer Höhe befinden, anstatt nach links abzufallen wie die des Jesuskindes.

Guercino hat den Amor zügig und sicher festgehalten, wobei sein kraftvoller Pinselstrich Furchen in der dick aufgetragenen Farbe hinterlassen hat, etwa im rechten Knie und oberen Schienbein sowie im linken Schienbein Amors. Auch im Gesicht und im Faltenwurf ist der Pinselstrich wunderschön sichtbar. Die verwischten Randzonen von Amors blassem Körper, die auf den dunklen Hintergrund treffen, suggerieren eine subtile Dämmerstimmung, wie sie keinem Nachfolger zuzutrauen wäre. Eine Reihe von Pentimenti bezeugt Guercinos Prozess der Bildfindung; am augenscheinlichsten ist hier der mehrmals gezogene Umriss im oberen Bereich von Amors Oberschenkel, der zuerst noch höher angesetzt war. Der vorherrschende Einfluss auf das Bild kommt vom Bologneser Maler Ludovico Carracci, während auch Tizian, dem der junge Guercino die gedämpfte Farbigkeit und die lebendigen Oberflächenstrukturen schuldet, eine wichtige Inspirationsquelle darstellt.

Der Amor ist nicht das einzige Beispiel aus Guercinos vorrömischer Zeit, bei dem eine Figur aus dem ursprünglichen Bildzusammenhang einer weiter gefassten Komposition gelöst und dann erfolgreich für ein kleineres eigenständiges Werk übernommen wurde. Von ihrem früheren Umfeld befreit, erhält die Figur eine neue Identität. Derartige Ausgliederungen ermöglichten es Guercino, sich zu dem Honorar, das er für seine größeren und damit teureren Bilder bekam, noch etwas dazuzuverdienen. Ein gutes Beispiel für diese Vorgangsweise, die Guercino offenbar nach seiner römischen Periode (1621–23) aufgab, ist die Adaption von Lazarus’ Schwester aus der Erweckung des Lazarus (um 1619, Louvre, Paris) zu einer Maria Magdalena; besagtes Gemälde, das sich einst in der Suida Manning Collection in New York befand, wird heute im Jack S. Blanton Museum in Austin, Texas, aufbewahrt wird.(2) Um diese Umwandlung herbeizuführen, wurde die Maria Magdalena halb hinter einem Steinblock platziert, wo ihre Hand auf dem darauf befindlichen Totenschädel ruht. Der Einschätzung Mahons folgend wird das Bild in Austin allgemein um 1624/25 datiert, doch es mag auch schon früher entstanden sein, in größerer zeitlicher Nähe zur Erweckung des Lazarus, die als Vorlage für die Figur gedient hat.(3)

Wir danken Nicholas Turner für die Katalogisierung des vorliegenden Gemäldes.

Anmerkungen:

1 L. Salerno, I dipinti del Guercino, Rom 1988, S. 148/49, Nr. 69; und D. Mahon, „Catalogo critico“, in: Giovanni Francesco Barbieri Il Guercino 1591–1666, Ausst. Kat., Museo Civico Archeologico, Bologna, und Pinacoteca Civica und Chiesa del Rosario, Cento, September bis November 1991, S. 128–131, Nr. 45. 

2 Eine weitere mögliche „Ausgliederung“ ist die der halbfigurigen Sibylle von 1619 in der Sammlung des verstorbenen Sir Denis Mahon, heute als Leihgabe in der Pinacoteca Nazionale, Bologna (Salerno 1988, S. 132). Die Haltung der Sibylle ist identisch mit jener einer der Sebastian pflegenden Frauen des Gemäldes Die Versorgung der Wunden des hl. Sebastian in der Pinacoteca Nazionale, Bologna (Salerno 1988, S. 131, Nr. 54; Mahon 1991, S. 110/11, Nr. 37). Dort hält die Frau ein mit Wasser gefülltes Becken in ihrer Linken, während sie mit der Rechten einen Schwamm ausdrückt, mit dem sie im Begriff ist, die Wunden des jungen Mannes zu reinigen. Auf dem Bild in der Sammlung

Mahon hält die Sibylle in der Rechten eine Schriftrolle statt des Schwamms, während die Linke geöffnet ist, anstatt ein Becken zu tragen. Die halbfigurige Sibylle zeigt nicht denselben Grad an Vollendung wie ihr Vorbild, doch meiner Ansicht nach rechtfertigt dies nicht Mahons Behauptung, sie wäre bloß eine Skizze für die gleich große Frauengestalt im Sebastian-Bild. Die andere Identität, die Guercino „wiederverwerteten“ Figuren wie dem Amor oder der Maria Magdalena verleiht, lässt den Schluss zu, dass die halbfigurige Sybille nach ihrem Gegenpart entstanden ist. Zweifellos wurde sie unvollendet gelassen, weil Guercino wohl zuwarten wollte, bis ein Kunde bereit war, für die Fertigstellung des Bildes zu bezahlen oder es so zu nehmen, wie es war.

3 Die beiden Figuren stimmen in Farbigkeit und Größe stark überein; es ist schwer vorstellbar, dass dies zu einem Zeitpunkt hätte gelingen können, als die Erweckung des Lazarus bereits an Kardinal Serra (1570–1623), dem wahrscheinlichen Empfänger des Bildes, verschickt gewesen war.


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
old.masters@dorotheum.at

+43 1 515 60 403
Auktion: Alte Meister
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 17.10.2012 - 18:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 06.10. - 17.10.2012


** Kaufpreis inkl. Käufergebühr und Mehrwertsteuer

Es können keine Kaufaufträge über Internet mehr abgegeben werden. Die Auktion befindet sich in Vorbereitung bzw. wurde bereits durchgeführt.

Warum bei myDOROTHEUM registrieren?

Die kostenlose Registrierung bei myDOROTHEUM ermöglicht Ihnen die komplette Nutzung folgender Funktionen:

Katalog Benachrichtigungen sobald ein neuer Auktionskatalog online ist.
Auktionstermin Erinnerung zwei Tage vor Auktionsbeginn.
Mitbieten Bieten Sie auf Ihre Lieblingsstücke und ersteigern Sie neue Meisterwerke!
Suchservice Sie suchen nach einem bestimmten Künstler oder einer bestimmten Marke? Speichern Sie Ihre Suche ab und werden Sie automatisch informiert, sobald diese in einer Auktion angeboten werden!