Lot Nr. 11


Giacomo Balla *


Giacomo Balla * - Klassische Moderne

(Turin 1871–1958 Rom)
Autosmorfia, 1900, signiert Balla, Öl auf Holztafel, 42,2 x 31,2 cm

Fotozertifikat:
Elena Gigli, Rom, Nr. 827, 2018

Provenienz:
Atelier des Künstlers, Rom
Sammlung E. Coppola, Rom (auf der Rückseite in Handschrift: proprietà Coppola), 1968 direkt vom Atelier des Künstlers erworben und seither im Erbgang
Privatsammlung, Italien

Ausgestellt:
Rom, Balla pre-futurista, Galleria dell’Obelisco, Januar/Februar 1968, Ausst.-Kat. S. 12, Nr. 4 mit Abb. (mit falschen Maßangaben)

Literatur:
Maurizio Fagiolo dell’Arco, Balla pre-futurista, Bulzoni ed., Rom 1968, S. 39, Nr. 15, S. 12 mit Abb.
Teresa Fiori, Archivi del Divisionismo, De Luca ed., Rom 1969, Bd. II, Nr. X.22, Taf. 1710 mit Abb.
Elica Balla, Con Balla, Multipla, Mailand, 1984, Bd. I, S. 32 mit Abb.

Der Maler vor dem Spiegel

Das Interesse an der Psyche des gemalten Subjekts, welches im sechzehnten Jahrhundert kulturell noch stark in einem pseudowissenschaftlichen Denken verwurzelt war, das magische mit alchemistischen und physiognomischen Elementen vereinte, wandte sich im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts einem zunehmend modernen, rationalen und wissenschaftlichen Blick zu. Die Beobachtung dieser Vernunftebene und der Beweglichkeit des menschlichen Geistes wurde schließlich charakteristisch für unzählige Porträts und Selbstbildnisse dieser Zeit. Gian Lorenzo Berninis Werk gilt als gewandtes Beispiel dafür und steht für merkliche Unmittelbarkeit und tatsächliche psychologische Innenschau. Der Blick nach Innen und autobiographische Reflexion sind ebenfalls zentrale Elemente in den Arbeiten europäischer Künstler, besonders in jenen Rembrandts. Ebenso wie Dürer, widmete er sich auf beharrliche Weise der Selbstdarstellung und hinterließ sechsundvierzig Selbstporträts, sowohl gezeichnete wie gemalte, die alle typischen Strömungen künstlerischen Schaffens des sechzehnten Jahrhunderts miteinander vereinen. Es waren ebenjene gezielt introspektiven Selbstbildnisse Rembrandts, die sein zunehmendes Leiden auf die Leinwand bannten und ihm das nötige Gespür verliehen, seinen fortschreitenden Verfall in seinen Pinselstrichen und den verwendeten Materialien herauszuarbeiten, indem er mehr und mehr die Spuren der einst leuchtenden und präzisen Gemälde seiner Jugend verwischte. Es war dieser stilistische Weg, der seine Zeitgenossen zum Staunen brachte und dessen einziger Vorläufer Tizians „non-finito“ (unfertige) Arbeiten waren. Rembrandts Erforschung führt die Periode des Experimentierens und Klassifizierens von Selbstbildnissen zu einem Ende – eine Periode, welche ungefähr vom fünfzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert andauerte und dem Genre zu Gewicht und Eigenständigkeit in der europäischen Kunsttradition verhalf.
Im achtzehnten Jahrhundert werden die sogenannten „Charakterköpfe“ von Franz Xaver Messerschmidt (1736-1783) zu einem wichtigen Schnittpunkt zwischen Kunst und Psychologie. Rudolf Wittkower bezeichnete sie als „Prüffeld für das Problemstudium von Künstlern und deren geistiger Gesundheit“. Dabei handelt es sich beinahe um einen Einzelfall innerhalb der Kunstgeschichte, dessen einziger Vorläufer der bereits erwähnte Bernini war, welcher 1619 zwei Charakterköpfe für den Kardinal Foix de Montoya anfertige, und zwar „Anima Beata“ und „Anima Dannata“, die erlöste und die verdammte Seele. War es Berninis Absicht, menschliche Eigen- und Leidenschaften darzustellen, so stellt Messerschmidt die Figur eines düsteren Künstlers dar, extravagant und auf verhängnisvolle Weise absorbiert von einer individualistischen und unteilbaren Repräsentation von Wirklichkeit, seiner selbst und seiner Kunst. Unter den Künstlern des neunzehnten Jahrhunderts finden sich viele Versuche, das Selbstbildnis als organisch gewachsenen Zusammenhang innerhalb der eigenen Künstlerkarriere darzustellen, sodass das Bild des eigenen Selbst und der eigenen Kunst perfekt aufeinander abgestimmt sind. Gustave Courbets (1844-49) Der Verzweifelte, Selbstbildnis scheint die Bestürzung ob der Wahrnehmung seiner Selbst vor dem Spiegel mit beinahe hyperrealistischer Präzision darzustellen. Es war die Psychoanalyse, von Sigmund Freud (1856-1939) in den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt, welche eine Ödipale Wende in der Kunst herbeiführen sollte, im Zuge derer subjektive, malerische Experimente entstanden, die sich aus regressiven Träumen und erotischen Fantasien speisten, wie aus den Arbeiten von Gustav Klimt, Egon Schiele und Oscar Kokoschka klar hervorgeht. Im Wien der damaligen Zeit wurden derlei Experimente nicht toleriert, deuteten sie doch auf eine Krise in der Stabilität des eigenen Selbst und der sozialen Einrichtungen hin, eine Krise, die Freud rasch zu analysieren verstand und die nicht nur die österreichische Hauptstadt erfasst hatte. Auch im Italien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts entstand eine „menschlichere und authentischere“ Kunst – besonders innerhalb der sogenannten „kleinen römischen Avantgarde“ (Cena, Pellizza da Volpedo, Balla, Prini), inspiriert von der gegenwärtigen Realität und gekennzeichnet durch einen fundamentalen Idealismus mit sentimentaler und psychologischer Färbung und einen überschwänglichen, humanitären Auftrag. Dies war die Periode, in welcher Balla an seiner „Grimasse“ mit langem, rotzotteligem Schopf und Bohème-Halstuch tüftelte. Es ist 1900, das Jahr der Weltausstellung in Paris. Die „Stadt des Lichts“ schillert mehr denn je zuvor. Der junge Giacomo Balla ist 29 Jahre alt und seit September als Gast des Künstlers Serafino Macchiati in Paris. „Lass es uns nochmal versuchen... Ich gehe nach Paris. Dort wird es großartige Kunst geben und man kann von den großen Meistern lernen“, schrieb der Maler Elisa, seiner Frau. Er besuchte das Louvre, wo er neben den Gemälden der Alten Meister auch auf ein Selbstporträt des niederländischen Künstlers Adrien Brouwer stieß, sowie auf La haine et la folie von Vučetić. Dann schreibt er wieder Elisa: „(...) Nach dem Frühstück malte ich weiter Köpfe, die schrägsten Grimassen ziehend (es sind SELBST-GRIMASSEN), ich werde ein paar davon malen und dann versuchen sie zu verkaufen.“
Die „Selbst-Grimasse“ (Autosmorfia) ist ein bewegtes Bild, welches spätere experimentelle Analysen antizipiert, wie ein Kind, das über den Balkon läuft, den Flug der Schwalben oder die Geschwindigkeit des Automobils. Aber sie ist auch etwas anderes, was Balla bereits in einer Reihe von Selbstbildnissen zu suchen schien (das erste davon auf der Rückseite eines frühen Fotos von ihm), in welcher er ab 1894 die möglichen Ausdrucksformen des menschlichen Gesichts ergründete.
Ebenso wie andere zeitgenössische italienische Künstler, die Selbstporträts malen, interessiert sich Balla auch dafür, auf welcher Ebene er sich entschließt zu kommunizieren: Lüge oder Wahrheit, Freude, oder die Visualisierung von Ängsten und versteckten Süchten. Der Mythos von Narziss lehrt uns, dass man selbst vollkommene Fiktion oder unbewusste Wahrheit sein kann und, dass der moderne Künstler sich auf der psychoanalytischen Leinwand von seinen Vorgängern dahingehend unterscheidet, dass er Ewigkeit gegen Bewusstsein austauscht und danach strebt, durch das Selbstporträt Selbsterkenntnis zu erlangen.

Expertin: Maria Cristina Corsini Maria Cristina Corsini
+39-06-699 23 671

maria.corsini@dorotheum.it

04.06.2019 - 17:00

Erzielter Preis: **
EUR 75.300,-
Schätzwert:
EUR 80.000,- bis EUR 120.000,-

Giacomo Balla *


(Turin 1871–1958 Rom)
Autosmorfia, 1900, signiert Balla, Öl auf Holztafel, 42,2 x 31,2 cm

Fotozertifikat:
Elena Gigli, Rom, Nr. 827, 2018

Provenienz:
Atelier des Künstlers, Rom
Sammlung E. Coppola, Rom (auf der Rückseite in Handschrift: proprietà Coppola), 1968 direkt vom Atelier des Künstlers erworben und seither im Erbgang
Privatsammlung, Italien

Ausgestellt:
Rom, Balla pre-futurista, Galleria dell’Obelisco, Januar/Februar 1968, Ausst.-Kat. S. 12, Nr. 4 mit Abb. (mit falschen Maßangaben)

Literatur:
Maurizio Fagiolo dell’Arco, Balla pre-futurista, Bulzoni ed., Rom 1968, S. 39, Nr. 15, S. 12 mit Abb.
Teresa Fiori, Archivi del Divisionismo, De Luca ed., Rom 1969, Bd. II, Nr. X.22, Taf. 1710 mit Abb.
Elica Balla, Con Balla, Multipla, Mailand, 1984, Bd. I, S. 32 mit Abb.

Der Maler vor dem Spiegel

Das Interesse an der Psyche des gemalten Subjekts, welches im sechzehnten Jahrhundert kulturell noch stark in einem pseudowissenschaftlichen Denken verwurzelt war, das magische mit alchemistischen und physiognomischen Elementen vereinte, wandte sich im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts einem zunehmend modernen, rationalen und wissenschaftlichen Blick zu. Die Beobachtung dieser Vernunftebene und der Beweglichkeit des menschlichen Geistes wurde schließlich charakteristisch für unzählige Porträts und Selbstbildnisse dieser Zeit. Gian Lorenzo Berninis Werk gilt als gewandtes Beispiel dafür und steht für merkliche Unmittelbarkeit und tatsächliche psychologische Innenschau. Der Blick nach Innen und autobiographische Reflexion sind ebenfalls zentrale Elemente in den Arbeiten europäischer Künstler, besonders in jenen Rembrandts. Ebenso wie Dürer, widmete er sich auf beharrliche Weise der Selbstdarstellung und hinterließ sechsundvierzig Selbstporträts, sowohl gezeichnete wie gemalte, die alle typischen Strömungen künstlerischen Schaffens des sechzehnten Jahrhunderts miteinander vereinen. Es waren ebenjene gezielt introspektiven Selbstbildnisse Rembrandts, die sein zunehmendes Leiden auf die Leinwand bannten und ihm das nötige Gespür verliehen, seinen fortschreitenden Verfall in seinen Pinselstrichen und den verwendeten Materialien herauszuarbeiten, indem er mehr und mehr die Spuren der einst leuchtenden und präzisen Gemälde seiner Jugend verwischte. Es war dieser stilistische Weg, der seine Zeitgenossen zum Staunen brachte und dessen einziger Vorläufer Tizians „non-finito“ (unfertige) Arbeiten waren. Rembrandts Erforschung führt die Periode des Experimentierens und Klassifizierens von Selbstbildnissen zu einem Ende – eine Periode, welche ungefähr vom fünfzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert andauerte und dem Genre zu Gewicht und Eigenständigkeit in der europäischen Kunsttradition verhalf.
Im achtzehnten Jahrhundert werden die sogenannten „Charakterköpfe“ von Franz Xaver Messerschmidt (1736-1783) zu einem wichtigen Schnittpunkt zwischen Kunst und Psychologie. Rudolf Wittkower bezeichnete sie als „Prüffeld für das Problemstudium von Künstlern und deren geistiger Gesundheit“. Dabei handelt es sich beinahe um einen Einzelfall innerhalb der Kunstgeschichte, dessen einziger Vorläufer der bereits erwähnte Bernini war, welcher 1619 zwei Charakterköpfe für den Kardinal Foix de Montoya anfertige, und zwar „Anima Beata“ und „Anima Dannata“, die erlöste und die verdammte Seele. War es Berninis Absicht, menschliche Eigen- und Leidenschaften darzustellen, so stellt Messerschmidt die Figur eines düsteren Künstlers dar, extravagant und auf verhängnisvolle Weise absorbiert von einer individualistischen und unteilbaren Repräsentation von Wirklichkeit, seiner selbst und seiner Kunst. Unter den Künstlern des neunzehnten Jahrhunderts finden sich viele Versuche, das Selbstbildnis als organisch gewachsenen Zusammenhang innerhalb der eigenen Künstlerkarriere darzustellen, sodass das Bild des eigenen Selbst und der eigenen Kunst perfekt aufeinander abgestimmt sind. Gustave Courbets (1844-49) Der Verzweifelte, Selbstbildnis scheint die Bestürzung ob der Wahrnehmung seiner Selbst vor dem Spiegel mit beinahe hyperrealistischer Präzision darzustellen. Es war die Psychoanalyse, von Sigmund Freud (1856-1939) in den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt, welche eine Ödipale Wende in der Kunst herbeiführen sollte, im Zuge derer subjektive, malerische Experimente entstanden, die sich aus regressiven Träumen und erotischen Fantasien speisten, wie aus den Arbeiten von Gustav Klimt, Egon Schiele und Oscar Kokoschka klar hervorgeht. Im Wien der damaligen Zeit wurden derlei Experimente nicht toleriert, deuteten sie doch auf eine Krise in der Stabilität des eigenen Selbst und der sozialen Einrichtungen hin, eine Krise, die Freud rasch zu analysieren verstand und die nicht nur die österreichische Hauptstadt erfasst hatte. Auch im Italien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts entstand eine „menschlichere und authentischere“ Kunst – besonders innerhalb der sogenannten „kleinen römischen Avantgarde“ (Cena, Pellizza da Volpedo, Balla, Prini), inspiriert von der gegenwärtigen Realität und gekennzeichnet durch einen fundamentalen Idealismus mit sentimentaler und psychologischer Färbung und einen überschwänglichen, humanitären Auftrag. Dies war die Periode, in welcher Balla an seiner „Grimasse“ mit langem, rotzotteligem Schopf und Bohème-Halstuch tüftelte. Es ist 1900, das Jahr der Weltausstellung in Paris. Die „Stadt des Lichts“ schillert mehr denn je zuvor. Der junge Giacomo Balla ist 29 Jahre alt und seit September als Gast des Künstlers Serafino Macchiati in Paris. „Lass es uns nochmal versuchen... Ich gehe nach Paris. Dort wird es großartige Kunst geben und man kann von den großen Meistern lernen“, schrieb der Maler Elisa, seiner Frau. Er besuchte das Louvre, wo er neben den Gemälden der Alten Meister auch auf ein Selbstporträt des niederländischen Künstlers Adrien Brouwer stieß, sowie auf La haine et la folie von Vučetić. Dann schreibt er wieder Elisa: „(...) Nach dem Frühstück malte ich weiter Köpfe, die schrägsten Grimassen ziehend (es sind SELBST-GRIMASSEN), ich werde ein paar davon malen und dann versuchen sie zu verkaufen.“
Die „Selbst-Grimasse“ (Autosmorfia) ist ein bewegtes Bild, welches spätere experimentelle Analysen antizipiert, wie ein Kind, das über den Balkon läuft, den Flug der Schwalben oder die Geschwindigkeit des Automobils. Aber sie ist auch etwas anderes, was Balla bereits in einer Reihe von Selbstbildnissen zu suchen schien (das erste davon auf der Rückseite eines frühen Fotos von ihm), in welcher er ab 1894 die möglichen Ausdrucksformen des menschlichen Gesichts ergründete.
Ebenso wie andere zeitgenössische italienische Künstler, die Selbstporträts malen, interessiert sich Balla auch dafür, auf welcher Ebene er sich entschließt zu kommunizieren: Lüge oder Wahrheit, Freude, oder die Visualisierung von Ängsten und versteckten Süchten. Der Mythos von Narziss lehrt uns, dass man selbst vollkommene Fiktion oder unbewusste Wahrheit sein kann und, dass der moderne Künstler sich auf der psychoanalytischen Leinwand von seinen Vorgängern dahingehend unterscheidet, dass er Ewigkeit gegen Bewusstsein austauscht und danach strebt, durch das Selbstporträt Selbsterkenntnis zu erlangen.

Expertin: Maria Cristina Corsini Maria Cristina Corsini
+39-06-699 23 671

maria.corsini@dorotheum.it


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
kundendienst@dorotheum.at

+43 1 515 60 200
Auktion: Klassische Moderne
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 04.06.2019 - 17:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 25.05. - 04.06.2019


** Kaufpreis inkl. Käufergebühr und Mehrwertsteuer

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