Lot Nr. 106


Antonio Bellucci


Antonio Bellucci - Alte Meister I

(Pieve di Soligo 1654–1726)
Die Toilette der Belinda,
Öl auf Leinwand, 102 x 77 cm, gerahmt

Provenienz:
Chilton Art Gallery, um 1966 (laut einer Fotografie in der Witt Library, Courtauld Institute of Art, London, als Jacopo Amigoni oder Pellegrini?);
europäische Privatsammlung;
dort erworben durch den jetzigen Besitzer

Wir danken Enrico Lucchese, der die Zuschreibung des vorliegenden Gemäldes vorgeschlagen hat, für seine Hilfe bei der Katalogisierung dieses Lots.

Lucchese hat vorgeschlagen, dieses bislang unpublizierte Gemälde Antonio Belluccis britischer Zeit zuzordnen, weil ihm die Qualität des Bildes in Verbindung mit den charakteristischen Merkmalen der Figur und der durch einen spätbarocken Filter interpretierten klassischen Komposition nach dem Vorbild Carlo Cignanis und Werken der Bologneser Schule für die Produktion dieser Schaffensperiode des Künstlers typisch erscheint (siehe E. Lucchese, Addenda alla prima attività viennese di Antonio Bellucci, in: Arte Veneta, 73, 2017, S. 184–186).

Bellucci arbeitete für James Brydges, den ersten Herzog von Chandos, an der Ausstattung der Kapelle von Cannons in Little Stanmore in Middlesex, die im August 1720 eingeweiht wurde (E. Lucchese, Per l’attività decorativa di Antonio Bellucci in Inghilterra, in: Arte Veneta, 68, 2012, S. 164–181). Aufgrund seines weltlichen Themas steht das vorliegende Gemälde dem von Bellucci für die Decke des sogenannten Museums von Cannons gemalten Bild Die Künste und die Wissenschaften besonders nahe, das sich heute auf Grimsthorpe Castle in Lincolnshire befindet (Magani 1995, S. 182f., Kat. 88); auch die in der Tate Gallery in London erhaltene Studie für letzteres Werk (Lucchese 2012, S. 166f.) bietet sich für einen Vergleich an. Zudem ist die Idee, eine Halbfigur im Gegensatz von Licht und Schatten darzustellen, jener der Komposition der Heiligen Familie ähnlich, die sich in einer Privatsammlung in Parma erhalten hat und ebenfalls in Belluccis britische Zeit datiert (Magani 1995, S. 184, Kat. 90).

Die zeitliche Einordnung des Werks hat eine Klärung seines Themas ermöglicht, das wiederum auf den möglichen Auftraggeber verwies. Von seinem Genre her lässt sich das Thema typischen Darstellungen der Toilette der Venus oder des Haars der Berenike zur Seite stellen, obgleich einerseits Cupido und andere für den Mythos kennzeichnende Elemente des Schauplatzes und anderseits das entscheidende Attribut der Schere fehlen, mit der sich die ägyptische Königin Berenike den Haarschopf abschneidet, der dann zu einem Sternbild wird. Das vorliegende Werk entfaltet sich in einem Innenraum des frühen 18. Jahrhunderts, wie sich am Stil der Ornamente der Schatulle auf dem Tisch ablesen lässt, die neben der jungen Frau steht, die gerade ihr Haar öffnet. Sie ist offensichtlich gerade erst aufgestanden, ihr weißes Gewand spielerisch ungeordnet. Ohne jeglichen Hinweis darauf, dass Eitelkeit vor dem Fall kommt, betrachtet sie sich in einem Spiegel, den ein junger Page hält.

Diese Einzelheiten verweisen auf die Zeilen gegen Ende des ersten Cantos von Alexander Popes pseudoheroischem Gedicht The Rape of the Lock (Der Lockenraub, ins Italienische als Il ricciolo rapito übertragen), das erstmals 1712 und zwei Jahre später in seiner definitiven Ausgabe erschien, dessen Frontispiz die betreffende Episode schmückte. Pope beschreibt, dass Belinda, die Heldin des Gedichtes, gerade aufgestanden ist und ihre Morgentoilette macht: „First, rob’d in White, the nymph intent adores / With Head uncover’d the cosmetic pow’rs. / A heav’nly Image in the glass appears“ (A. Pope, The Rape of the Lock. An Heroi-comical Poem, London 1714, S. 8).

Die subtile Erotik von Belluccis Toilette der Belinda offenbart sich durch die in bester venezianischer Tradition erfolgende bedachtsame sinnliche Beschreibung von Einzelheiten der rechten Brust, der Haut und des Haars, ja der Augenbrauen der jungen blonden Frau ‒ Qualitäten, die alle durch die poetische Sprache Popes gerechtfertigt werden, die offensichtlich zu dermaßen unmittelbarem Ruhm gelangte, dass sie 1717 sogar zum Gegenstand einer platten Parodie von Giles Jacob, The Rape of the Smock, wurde.

James Brydges gehörte damals zu den Bewunderern Popes. 1715 half er seine Übersetzung der Ilias zu finanzieren (S. Jenkins, Portrait of a Patron. The Patronage and Collecting of James Brydges, 1st Duke of Chandos (1674‒1744), Aldershot 2007, S. 154). Sechs Jahre später schmückte Bellucci für John Sheffield die Wände der großen Stiege des Buckingham House in London mit Szenen der Geschichte von Dido und Aeneas im Einklang mit dem „literarischen Klassizismus, der den Ruhm Vergils und der Aeneis in der Übersetzung John Drydens und der Dichtung Alexander Popes fortschrieb“ (Magani 1995, S. 188, Kat. P9‒11). Der Dichter schätzte die Gemälde des italienischen Künstlers offensichtlich, wie ein sie erwähnender Brief vom 3. Februar 1731 belegt (A. Pope, The Works of Alexander Pope Esq., I, 1824, S. 382; Magani 1995, S. 68, Nr. 135), in dem er sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzt, in der zweiten Ausgabe seiner Schrift Of False Taste die Ausstattung von Cannons für dessen Besitzer verworfen zu haben (Jenkins 2007).

Im Licht dieser Umstände lässt sich vermuten, dass die Toilette der Belinda von jemandem in Auftrag gegeben wurde, der die Gemälde Belluccis ebenso bewunderte wie die Dichtung Popes: etwa vom Herzog von Chandos, dessen Sammlungen im Juni 1747 im Verlauf einer zehntägigen Auktion in alle Winde zerstreut wurden (Jenkins 2007, S. 191), von einem erlauchten Förderer aus dem Umkreis Alexander Popes wie dem bereits erwähnten John Sheffield, Duke of Buckingham, oder einer anderen Cannons verbundenen Berühmtheit wie Georg Friedrich Händel, der die Chandos Anthems komponierte und zeitgenössische venezianische Gemälde sammelte (A. Meyric-Hughes, M. Royalton-Kisch, Handel’s Art Collection, in: Apollo, 146, 1997, 427, S. 17–23).

22.10.2019 - 17:00

Erzielter Preis: **
EUR 35.300,-
Schätzwert:
EUR 20.000,- bis EUR 30.000,-

Antonio Bellucci


(Pieve di Soligo 1654–1726)
Die Toilette der Belinda,
Öl auf Leinwand, 102 x 77 cm, gerahmt

Provenienz:
Chilton Art Gallery, um 1966 (laut einer Fotografie in der Witt Library, Courtauld Institute of Art, London, als Jacopo Amigoni oder Pellegrini?);
europäische Privatsammlung;
dort erworben durch den jetzigen Besitzer

Wir danken Enrico Lucchese, der die Zuschreibung des vorliegenden Gemäldes vorgeschlagen hat, für seine Hilfe bei der Katalogisierung dieses Lots.

Lucchese hat vorgeschlagen, dieses bislang unpublizierte Gemälde Antonio Belluccis britischer Zeit zuzordnen, weil ihm die Qualität des Bildes in Verbindung mit den charakteristischen Merkmalen der Figur und der durch einen spätbarocken Filter interpretierten klassischen Komposition nach dem Vorbild Carlo Cignanis und Werken der Bologneser Schule für die Produktion dieser Schaffensperiode des Künstlers typisch erscheint (siehe E. Lucchese, Addenda alla prima attività viennese di Antonio Bellucci, in: Arte Veneta, 73, 2017, S. 184–186).

Bellucci arbeitete für James Brydges, den ersten Herzog von Chandos, an der Ausstattung der Kapelle von Cannons in Little Stanmore in Middlesex, die im August 1720 eingeweiht wurde (E. Lucchese, Per l’attività decorativa di Antonio Bellucci in Inghilterra, in: Arte Veneta, 68, 2012, S. 164–181). Aufgrund seines weltlichen Themas steht das vorliegende Gemälde dem von Bellucci für die Decke des sogenannten Museums von Cannons gemalten Bild Die Künste und die Wissenschaften besonders nahe, das sich heute auf Grimsthorpe Castle in Lincolnshire befindet (Magani 1995, S. 182f., Kat. 88); auch die in der Tate Gallery in London erhaltene Studie für letzteres Werk (Lucchese 2012, S. 166f.) bietet sich für einen Vergleich an. Zudem ist die Idee, eine Halbfigur im Gegensatz von Licht und Schatten darzustellen, jener der Komposition der Heiligen Familie ähnlich, die sich in einer Privatsammlung in Parma erhalten hat und ebenfalls in Belluccis britische Zeit datiert (Magani 1995, S. 184, Kat. 90).

Die zeitliche Einordnung des Werks hat eine Klärung seines Themas ermöglicht, das wiederum auf den möglichen Auftraggeber verwies. Von seinem Genre her lässt sich das Thema typischen Darstellungen der Toilette der Venus oder des Haars der Berenike zur Seite stellen, obgleich einerseits Cupido und andere für den Mythos kennzeichnende Elemente des Schauplatzes und anderseits das entscheidende Attribut der Schere fehlen, mit der sich die ägyptische Königin Berenike den Haarschopf abschneidet, der dann zu einem Sternbild wird. Das vorliegende Werk entfaltet sich in einem Innenraum des frühen 18. Jahrhunderts, wie sich am Stil der Ornamente der Schatulle auf dem Tisch ablesen lässt, die neben der jungen Frau steht, die gerade ihr Haar öffnet. Sie ist offensichtlich gerade erst aufgestanden, ihr weißes Gewand spielerisch ungeordnet. Ohne jeglichen Hinweis darauf, dass Eitelkeit vor dem Fall kommt, betrachtet sie sich in einem Spiegel, den ein junger Page hält.

Diese Einzelheiten verweisen auf die Zeilen gegen Ende des ersten Cantos von Alexander Popes pseudoheroischem Gedicht The Rape of the Lock (Der Lockenraub, ins Italienische als Il ricciolo rapito übertragen), das erstmals 1712 und zwei Jahre später in seiner definitiven Ausgabe erschien, dessen Frontispiz die betreffende Episode schmückte. Pope beschreibt, dass Belinda, die Heldin des Gedichtes, gerade aufgestanden ist und ihre Morgentoilette macht: „First, rob’d in White, the nymph intent adores / With Head uncover’d the cosmetic pow’rs. / A heav’nly Image in the glass appears“ (A. Pope, The Rape of the Lock. An Heroi-comical Poem, London 1714, S. 8).

Die subtile Erotik von Belluccis Toilette der Belinda offenbart sich durch die in bester venezianischer Tradition erfolgende bedachtsame sinnliche Beschreibung von Einzelheiten der rechten Brust, der Haut und des Haars, ja der Augenbrauen der jungen blonden Frau ‒ Qualitäten, die alle durch die poetische Sprache Popes gerechtfertigt werden, die offensichtlich zu dermaßen unmittelbarem Ruhm gelangte, dass sie 1717 sogar zum Gegenstand einer platten Parodie von Giles Jacob, The Rape of the Smock, wurde.

James Brydges gehörte damals zu den Bewunderern Popes. 1715 half er seine Übersetzung der Ilias zu finanzieren (S. Jenkins, Portrait of a Patron. The Patronage and Collecting of James Brydges, 1st Duke of Chandos (1674‒1744), Aldershot 2007, S. 154). Sechs Jahre später schmückte Bellucci für John Sheffield die Wände der großen Stiege des Buckingham House in London mit Szenen der Geschichte von Dido und Aeneas im Einklang mit dem „literarischen Klassizismus, der den Ruhm Vergils und der Aeneis in der Übersetzung John Drydens und der Dichtung Alexander Popes fortschrieb“ (Magani 1995, S. 188, Kat. P9‒11). Der Dichter schätzte die Gemälde des italienischen Künstlers offensichtlich, wie ein sie erwähnender Brief vom 3. Februar 1731 belegt (A. Pope, The Works of Alexander Pope Esq., I, 1824, S. 382; Magani 1995, S. 68, Nr. 135), in dem er sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzt, in der zweiten Ausgabe seiner Schrift Of False Taste die Ausstattung von Cannons für dessen Besitzer verworfen zu haben (Jenkins 2007).

Im Licht dieser Umstände lässt sich vermuten, dass die Toilette der Belinda von jemandem in Auftrag gegeben wurde, der die Gemälde Belluccis ebenso bewunderte wie die Dichtung Popes: etwa vom Herzog von Chandos, dessen Sammlungen im Juni 1747 im Verlauf einer zehntägigen Auktion in alle Winde zerstreut wurden (Jenkins 2007, S. 191), von einem erlauchten Förderer aus dem Umkreis Alexander Popes wie dem bereits erwähnten John Sheffield, Duke of Buckingham, oder einer anderen Cannons verbundenen Berühmtheit wie Georg Friedrich Händel, der die Chandos Anthems komponierte und zeitgenössische venezianische Gemälde sammelte (A. Meyric-Hughes, M. Royalton-Kisch, Handel’s Art Collection, in: Apollo, 146, 1997, 427, S. 17–23).


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
old.masters@dorotheum.at

+43 1 515 60 403
Auktion: Alte Meister I
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 22.10.2019 - 17:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 12.10. - 22.10.2019


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