Lot Nr. 27 -


Peter Paul Rubens Werkstatt


Peter Paul Rubens Werkstatt - Alte Meister

(Siegen 1577–1640 Antwerpen)
Das Urteil des Paris,
Öl auf Leinwand, 148 x 188 cm, gerahmt

Provenienz:
Privatbesitz, Belgien

Das Gemälde diente möglicherweise als Vorlage für den Kupferstich Adriaen Lommelins (vor 1649).

Wir danken Fiona Healy, die das Gemälde im Februar 2016 im Original begutachtet hat, für die Hilfe bei der Erforschung des Gemäldes sowie für die Bestätigung, dass es sich um eine ausgezeichnete Werkstattfassung des Londoner Paris-Urteils handelt. Sie wird das Gemälde im Band XI, Mythological Subjects, 3. Pan to Vertumnus, des Corpus Rubenianum Ludwig Burchard veröffentlichen.

Dieses wiederentdeckte, bislang unpublizierte Gemälde stellt eine wichtige Ergänzung zum Oeuvre Peter Paul Rubens‘ und seiner Werkstatt dar und war der Forschung bislang nicht bekannt. Es ist ein gutes und attraktives Beispiel für die hochprofessionelle Arbeitsweise Rubens‘ und seines Ateliers. Darüber hinaus erfüllt es auch eine wichtige dokumentarische Funktion, da es Rubens‘ Ursprungskonzept einer seiner populärsten Kompositionen wiedergibt, des Urteils des Paris. Es schildert beinahe wortgetreu die Überlieferung des Paris-Mythos nach Lukians Urteil der Göttinnen (Göttergespräche, 20), in dem der trojanische Prinz Paris Merkur fragt, wie er denn die Schönheit der bekleideten Göttinnen erkennen solle. Merkur bedeutet diesen daraufhin, sich zu entkleiden. Paris entschied sich bekanntermaßen für Venus, die ihm die schöne Helena versprochen hatte. Deren Entführung durch Paris führte zum Trojanischen Krieg. Als düstere Vorahnung dieses zukünftigen epischen Kampfes erscheint im Himmel Alecto, die Furie des Krieges, mit einer flammenden Fackel.

Das vorliegende Gemälde dokumentiert das ursprüngliche Aussehen des Paris-Urteils in der National Gallery in London (Öl auf Holz, 144 x 193 cm, Inv. NG 194, Abb. 1). Das Londoner Gemälde befand sich in der Sammlung des Herzogs von Richelieu und ging gegen Mitte des 17. Jahrhunderts in den Besitz des Hauses Orléans über, bis es Anfang des 19. Jahrhunderts nach England verkauft wurde. Beim Vergleich der Londoner Fassung mit dem vorliegenden Gemälde fallen einige wesentliche Unterschiede auf: So sind in der Londoner Fassung bis auf Amor als Attribut der Göttin Venus keine Putten und auch nicht die drei Satyrn oben links dargestellt, ferner streckt Paris Venus bereits als Zeichen seiner Entscheidung den Apfel hin, während er ihn auf dem vorliegenden Gemälde noch abwartend im Schoß hält. Anders als in der hier wiederendeckten Fassung ruht Paris‘ rechtes Bein in London auf dem Boden. Röntgenaufnahmen wie die mit dem bloßen Auge sichtbaren Pentimenti belegen, dass das Londoner Bild kompositorisch ursprünglich der hier angebotenen Fassung entsprach (s. G. Martin, National Gallery Catalogues: The Flemish School ca. 1600–ca. 1900, London 1970, S. 153-163, S. 155, und F. Healy: A Question of Choice. Rubens and the Judgement of Paris, Turnhout 1997). Bereits sehr früh erfuhr es allerdings einige Veränderungen, während das vorliegende Gemälde Rubens‘ originäre Bildidee dokumentiert. Fiona Healy kam 2005 zu dem Schluss, dass die Londoner Erstfassung bis zu ihrem jetzigen Aussehen vier Phasen der Bildentstehung durchlaufen hat. Als die erste Phase der Entwicklung der Londoner Version gilt die eigentliche Bildschöpfung, die von Rubens persönlich ausgeführt wurde und in der er noch spontane Veränderungen vornahm. Wie Röntgenaufnahmen des Londoner Gemäldes belegen, hatte Rubens bereits in Phase eins bei dem Londoner Gemälde wesentliche Details verändert. So war ursprünglich etwa eine Gruppe Tauben neben Venus Kopf enthalten und ein Putto sollte Venus krönen. Eine Farbschichtquerschnittanalyse legt nahe, dass Rubens den krönenden Putto übermalte, noch bevor die Farbe trocken war (s. L. Oliver/ F. Healy/ A. Roy/ R. Billinge, The Evolution of Rubens's ‚Judgement of Paris‘ (NG194), National Gallery Technical Bulletin, 26, 2005, S. 4-22, bes. S. 10). Mit den Änderungen zur Phase eins hatte sich Rubens also bewusst gegen die Darstellung des bereits gefallenen Urteils des jungen Prinzen Paris entschieden, die die Siegeskrone für Venus ja bedeutet hätte, und stattdessen seine schwierige Wahl thematisiert (s. Healy 1997). Ein von Rubens offenbar zunächst für gut befundener „Zwischenzustand“, den man als zweite Phase bezeichnen kann, war mit der Form der Komposition erreicht, die das vorliegende Gemälde wiedergibt. Eine Veränderung dieser Komposition in wesentlichen Bestandteilen erfolgte mit der dritten Phase, als sich das Londoner Gemälde noch in der Werkstatt befand. Farbschichtquerschnittanalysen belegen, dass einige wesentliche Veränderungen vorgenommen wurden, noch bevor der Firnis aufgetragen worden war. So wurden die Putti, die Minerva und Venus entkleiden, übermalt (s. Oliver/Healy/ Roy/ Billinge 2005, S. 11-12, s. außerdem Tafel 3). Veränderungen werden auch am Haarschmuck der Juno deutlich, der hier noch von einem großen Perlenreif geschmückt ist, der in der Londoner Fassung jedoch übermalt wurde. Die Londoner Tafel verließ daher Rubens‘ Werkstatt bereits in einer von der vorliegenden Fassung deutlich abweichenden Komposition. Das vorliegende Gemälde gibt also die Form der Bildentwicklung (Fiona Healy gebraucht passenderweise den Ausdruck „Evolution“) wieder, die das Londoner Gemälde nur über den relativ kurzen Zeitraum besaß, zwischen seiner Fertigstellung und den noch vor dem Firnissen vorgenommenen Änderungen. Wann die Veränderungen der Phase vier vorgenommen wurden, in der die Konzeption des Londoner Gemäldes grundsätzlich zu seinem heutigen Erscheinungsbild und zu der Darstellung der gefallenen Entscheidung verändert wurde (so wurde Paris‘ Bein angewinkelt und er hält Venus als Zeichen des Sieges den Apfel hin), ist umstritten. Die für die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts charakteristischen Pigmente, die in dieser Umgestaltung verwendet wurden, sprächen eigentlich für eine noch zu Rubens‘ Lebzeiten vorgenommene erneute Veränderung. Healy vermutet allerdings mit dem Hinweis auf die nachweisbar auch spätere Verwendung dieser Pigmente in Frankreich sowie auf stilgeschichtliche und kunsttheoretisch-historische Indizien, dass das Londoner Paris-Urteil seine heutige Form erst annahm, als es sich um 1680 in den Sammlungen Richelieu und später Orléans in Paris befand.

Dem französischen, akademisch-strengen Kunstgeschmack, und der an der „Idea dell’bello“ orientierten zeitgenössischen Kritik waren Rubens‘ Kompositionen oft zu wenig klassisch, seine Modelle zu wenig vornehm und die Anspielungen zu erotisch. Daher argumentiert Healy überzeugend, dass man das Londoner Paris-Urteil in Frankreich in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts veränderte – verschwinden sollte die Darstellung der recht anzüglichen Aufforderung Merkurs an die Göttinnen, sich zu entkleiden, sowie die kontemplativ-anzügliche Haltung des Paris. Ebenfalls verschwinden mussten die lüstern schauenden Satyrn, die die Göttinnen unbemerkt beobachten – sicherlich ein von Rubens geschickt angedeutetes Spiegelbild des Betrachters in karikierender Form, das dem französischen Geschmack zu derb gewesen zu sein scheint (s. Oliver/Healy/ Roy/ Billinge 2005, S. 20). Die Darstellung des Paris als abwägender Beobachter der nackten Göttinnen, wie ihn Rubens konzipiert hatte, ließ die Raison d’être des Bildes, den Entscheidungsmoment als die nach der Auffassung der französischen Kunsttheorie elementare Zuspitzung des Bildgeschehens, vermissen. Dass Paris, der für seine Schönheit und Anmut bekannte Prinz von Troja, von Rubens in der Gestalt eines flämischen Hirten mit Schlapphut dargestellt wurde, muss, so Healy, ebenfalls dem französisch-klassizistischen Verständnis für das Dekorum widersprochen haben (s. Oliver/ Healy/ Roy/ Billinge 2005, S. 19). Folglich wurde auch sein Aussehen verändert, bis es eher der Vorstellung eines antiken Helden entsprach. Folglich verschwanden der Schlapphut und Teile des Hemdes und wurde der Gesichtsausdruck angepasst. Auch in seinen anderen Darstellungen des Paris-Urteils hatte sich Rubens für die Darstellung des Abwägens und Grübelns des Helden entschieden, eines Zwiespaltes, den das vorliegende Gemälde noch thematisiert, während sie auf dem Londoner Gemälde durch die Darstellung einer bereits gefallenen Entscheidung zugunsten der Schönheit ersetzt wurde – eine Versinnbildlichung französischen Kunstverständnisses. Bedauerlicherweise ist eine geringe Anzahl an Studien Rubens‘ zu dieser Komposition bekannt geworden. Es existiert überhaupt nur eine Skizze mit explizitem Bezug. Rubens zeichnete sie auf der oberen linken Ecke eines Skizzenblattes (Papier, 15,8 x 41,8 cm, Rotterdam, Museum Bojmans van Beuningen, Inv. V92 verso). Das Londoner Gemälde in seiner zweiten Phase wurde von Rubens offenbar für vollendet befunden. Es diente ihm, seiner Arbeitspraxis entsprechend, als Modell für die weitere Verwertung in der Werkstatt. Über eine verkleinerte, dem vorliegenden Gemälde in den Details im Wesentlichen entsprechende Fassung verfügt die Gemäldegalerie Alter Meister in Dresden (Öl auf Holz, 49 x 63 cm, Inventar-Nr. 962 B). Bis zur Wiederentdeckung des hier angebotenen Gemäldes galt diese für eine Werkstattwiederholung ungewöhnlich kleine Tafel als einzig bekanntes Werk aus der Werkstatt, das – neben späteren und nicht in der Werkstatt entstandenen wesentlich schwächeren Kopien – den Ursprungszustand der Erstfassung wiedergibt. Das Dresdener Gemälde wird in der Literatur gelegentlich als eigenhändig anerkannt (so etwa von M. Jaffé: Rubens, Catalogo Completo, Mailand 1989), auch wenn der vollständig autographe Status in der Vergangenheit angezweifelt worden ist (s. G. Martin, National Gallery Catalogues, The Flemish School, London 1970, S. 153-163). Healy ist der Meinung, dass die Dresdener Tafel in dem Moment entstanden ist, in dem das Londoner Gemälde seinen “Zwischenzustand”, Phase zwei, erreicht hatte: „[…] the existence of the Dresden painting suggests that Rubens considered the painting good enough to be copied by his workshop assistants“ (s. Oliver/ Healy/ Roy/ Billinge 2005, S. 10).

Die Entdeckung des vorliegenden Gemäldes mit nahezu identischen Maßen wie das Londoner Vorbild gibt nun zu der Vermutung Anlass, dass es sich hierbei um die erste, direkt von der Erstfassung übernommene und noch vor deren Veränderung geschaffene Wiederholung des Rubens-Ateliers handelt. Denkbar ist, dass sie auch noch nachdem die Londoner Erstfassung das Atelier in bereits veränderter Form verlassen hatte, dort verblieben ist und möglicherweise als Vorlage verschiedener noch in der Werkstatt oder auch außerhalb der Werkstatt angefertigter Kopien diente, möglicherweise auch als Vorbild der kleinen Dresdener Tafel. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass ein Kupferstich, den Adriaen Lommelin vor 1649, aber nach Rubens Tod 1640 von der Komposition anfertigte (Abb. 2) wohl nicht das Londoner Gemälde zeigt, da es eindeutig die Form der zweiten Phase der Londoner Fassung und somit die Komposition der vorliegenden Fassung wiedergibt. Daher könnte möglicherweise auch das wiederentdeckte Gemälde dem Kupferstecher als Vorlage gedient haben (vgl. zum Kupferstich Oliver/ Healy/ Roy/ Billinge 2005, S. 14). Lommelin gab in seiner Dedikation für die dritte Auflage des Kupferstichs den berühmten Antwerpener Sammler Diego Duarte als Eigentümer des Gemäldes an. Fiona Healy argumentiert, dass das Londoner Bild zwar mit dem Paris-Urteil identisch sei, welches sich bis zu seinem Verkauf durch den Kunsthändler Matthijs Musson 1676 in der Sammlung Duarte befand, Lommelin aber eine andere Version als Vorlage nutzte. Später, als ein Gemälde mit annähernd identischer Komposition in der Sammlung Duarte bekannt wurde, gab er in seiner Unterschrift den Stich als Reproduktion von Duartes Paris-Urteil aus, so Healy (vgl. ebd.). Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass es das vorliegende Gemälde war, das sich in der Sammlung Duartes befand, den Lommelin korrekterweise als Eigentümer seiner Vorlage angab. Damit wäre das vorliegende Gemälde Vorbild des Stiches gewesen. Anders als die Londoner Version stellt das vorliegende Gemälde die originale Konzeption des großen Antwerpeners dar und ermöglicht einen faszinierenden Einblick in dessen Werkstattpraxis. Wie die Londoner Erstfassung und die Dresdener Variante demonstriert es Rubens‘ Reife in seinem letzten Lebensjahrzehnt, einstimmig wird diese Version als die ausgereifteste von insgesamt mehreren Auseinandersetzungen mit dem Thema anerkannt.

Martin wies 1970 auf ein weiteres, pikantes Detail der Gemäldefassung hin: Die Göttin Venus ähnelt Rubens‘ zweiter Frau, Helene Fourment, und Minerva deren Schwester Susannah (vgl. Martin, S. 159, Endnote 29). Durch einen hoch professionalisierten arbeitsteiligen Werkstattbetrieb bewältigte Peter Paul Rubens, insbesondere in seiner reifen Schaffensphase der „zweiten Antwerpener Zeit“, ein fast unglaublich umfangreiches Arbeitspensum. Bislang ist es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht gelungen, individuelle Künstlerpersönlichkeiten als Mitarbeiter bei gemeinschaftlich entstandenen Werken zu erkennen. Eine Händescheidung gestaltet sich deshalb so schwierig, weil die Werkstattmitarbeiter sich Rubens‘ Stil so weit anpassten, dass sie als individuelle Künstler nicht mehr zu erkennen sind; dies trifft ebenso auf keinen Geringeren als den später mit eigenen Werken berühmt gewordenen Anthonis van Dyck zu. Diese charakteristische Arbeitsweise ermöglichte es Rubens, mit Schülern selbst Großaufträge in einem homogenen Stil zu bewältigen und diese Gemeinschaftswerke als eigenhändige Gemälde zu veräußern. Die heute gängige Unterscheidung in „Werkstatt“ und „eigenhändig“ wurde von Zeitgenossen bis auf wenige Ausnahmen nicht vorgenommen. Im Vordergrund standen eindeutig die kreative Leistung der Bildidee und die Herkunft aus dem Rubensatelier.



Zusatzabbildungen:
Fig. 1. Die Fassung in London, National Gallery, Öl auf Holz, 144 x 193 cm, Inv. NG 194
Fig. 2. Adrian Lommelin dokumentierte vor 1649 mit einem Kupferstich eine Fassung der Komposition, Sammlung Diego Duarte
Fig. 3, 4. Röntgenaufnahme und Detail der Londoner Fassung
Fig. 5. Vergleich des Londoner (links) und des vorliegenden Gemäldes (rechts)
Fig. 6. Infrarotreflektographie von Lot 27 © NTK 2015 Univ.Prof. Dipl.-Ing. Dr. M. Schreiner
Fig. 7. Rubens, Skizzenblatt, Papier, 15,8 x 41,8 cm, Rotterdam, Museum Bojmans van Beuningen, Inv. V92 verso. (Detail)

Experte: Dr. Alexander Strasoldo Dr. Alexander Strasoldo
+43 1 515 60 403

old.masters@dorotheum.com

19.04.2016 - 18:00

Erzielter Preis: **
EUR 868.733,-
Schätzwert:
EUR 400.000,- bis EUR 600.000,-

Peter Paul Rubens Werkstatt


(Siegen 1577–1640 Antwerpen)
Das Urteil des Paris,
Öl auf Leinwand, 148 x 188 cm, gerahmt

Provenienz:
Privatbesitz, Belgien

Das Gemälde diente möglicherweise als Vorlage für den Kupferstich Adriaen Lommelins (vor 1649).

Wir danken Fiona Healy, die das Gemälde im Februar 2016 im Original begutachtet hat, für die Hilfe bei der Erforschung des Gemäldes sowie für die Bestätigung, dass es sich um eine ausgezeichnete Werkstattfassung des Londoner Paris-Urteils handelt. Sie wird das Gemälde im Band XI, Mythological Subjects, 3. Pan to Vertumnus, des Corpus Rubenianum Ludwig Burchard veröffentlichen.

Dieses wiederentdeckte, bislang unpublizierte Gemälde stellt eine wichtige Ergänzung zum Oeuvre Peter Paul Rubens‘ und seiner Werkstatt dar und war der Forschung bislang nicht bekannt. Es ist ein gutes und attraktives Beispiel für die hochprofessionelle Arbeitsweise Rubens‘ und seines Ateliers. Darüber hinaus erfüllt es auch eine wichtige dokumentarische Funktion, da es Rubens‘ Ursprungskonzept einer seiner populärsten Kompositionen wiedergibt, des Urteils des Paris. Es schildert beinahe wortgetreu die Überlieferung des Paris-Mythos nach Lukians Urteil der Göttinnen (Göttergespräche, 20), in dem der trojanische Prinz Paris Merkur fragt, wie er denn die Schönheit der bekleideten Göttinnen erkennen solle. Merkur bedeutet diesen daraufhin, sich zu entkleiden. Paris entschied sich bekanntermaßen für Venus, die ihm die schöne Helena versprochen hatte. Deren Entführung durch Paris führte zum Trojanischen Krieg. Als düstere Vorahnung dieses zukünftigen epischen Kampfes erscheint im Himmel Alecto, die Furie des Krieges, mit einer flammenden Fackel.

Das vorliegende Gemälde dokumentiert das ursprüngliche Aussehen des Paris-Urteils in der National Gallery in London (Öl auf Holz, 144 x 193 cm, Inv. NG 194, Abb. 1). Das Londoner Gemälde befand sich in der Sammlung des Herzogs von Richelieu und ging gegen Mitte des 17. Jahrhunderts in den Besitz des Hauses Orléans über, bis es Anfang des 19. Jahrhunderts nach England verkauft wurde. Beim Vergleich der Londoner Fassung mit dem vorliegenden Gemälde fallen einige wesentliche Unterschiede auf: So sind in der Londoner Fassung bis auf Amor als Attribut der Göttin Venus keine Putten und auch nicht die drei Satyrn oben links dargestellt, ferner streckt Paris Venus bereits als Zeichen seiner Entscheidung den Apfel hin, während er ihn auf dem vorliegenden Gemälde noch abwartend im Schoß hält. Anders als in der hier wiederendeckten Fassung ruht Paris‘ rechtes Bein in London auf dem Boden. Röntgenaufnahmen wie die mit dem bloßen Auge sichtbaren Pentimenti belegen, dass das Londoner Bild kompositorisch ursprünglich der hier angebotenen Fassung entsprach (s. G. Martin, National Gallery Catalogues: The Flemish School ca. 1600–ca. 1900, London 1970, S. 153-163, S. 155, und F. Healy: A Question of Choice. Rubens and the Judgement of Paris, Turnhout 1997). Bereits sehr früh erfuhr es allerdings einige Veränderungen, während das vorliegende Gemälde Rubens‘ originäre Bildidee dokumentiert. Fiona Healy kam 2005 zu dem Schluss, dass die Londoner Erstfassung bis zu ihrem jetzigen Aussehen vier Phasen der Bildentstehung durchlaufen hat. Als die erste Phase der Entwicklung der Londoner Version gilt die eigentliche Bildschöpfung, die von Rubens persönlich ausgeführt wurde und in der er noch spontane Veränderungen vornahm. Wie Röntgenaufnahmen des Londoner Gemäldes belegen, hatte Rubens bereits in Phase eins bei dem Londoner Gemälde wesentliche Details verändert. So war ursprünglich etwa eine Gruppe Tauben neben Venus Kopf enthalten und ein Putto sollte Venus krönen. Eine Farbschichtquerschnittanalyse legt nahe, dass Rubens den krönenden Putto übermalte, noch bevor die Farbe trocken war (s. L. Oliver/ F. Healy/ A. Roy/ R. Billinge, The Evolution of Rubens's ‚Judgement of Paris‘ (NG194), National Gallery Technical Bulletin, 26, 2005, S. 4-22, bes. S. 10). Mit den Änderungen zur Phase eins hatte sich Rubens also bewusst gegen die Darstellung des bereits gefallenen Urteils des jungen Prinzen Paris entschieden, die die Siegeskrone für Venus ja bedeutet hätte, und stattdessen seine schwierige Wahl thematisiert (s. Healy 1997). Ein von Rubens offenbar zunächst für gut befundener „Zwischenzustand“, den man als zweite Phase bezeichnen kann, war mit der Form der Komposition erreicht, die das vorliegende Gemälde wiedergibt. Eine Veränderung dieser Komposition in wesentlichen Bestandteilen erfolgte mit der dritten Phase, als sich das Londoner Gemälde noch in der Werkstatt befand. Farbschichtquerschnittanalysen belegen, dass einige wesentliche Veränderungen vorgenommen wurden, noch bevor der Firnis aufgetragen worden war. So wurden die Putti, die Minerva und Venus entkleiden, übermalt (s. Oliver/Healy/ Roy/ Billinge 2005, S. 11-12, s. außerdem Tafel 3). Veränderungen werden auch am Haarschmuck der Juno deutlich, der hier noch von einem großen Perlenreif geschmückt ist, der in der Londoner Fassung jedoch übermalt wurde. Die Londoner Tafel verließ daher Rubens‘ Werkstatt bereits in einer von der vorliegenden Fassung deutlich abweichenden Komposition. Das vorliegende Gemälde gibt also die Form der Bildentwicklung (Fiona Healy gebraucht passenderweise den Ausdruck „Evolution“) wieder, die das Londoner Gemälde nur über den relativ kurzen Zeitraum besaß, zwischen seiner Fertigstellung und den noch vor dem Firnissen vorgenommenen Änderungen. Wann die Veränderungen der Phase vier vorgenommen wurden, in der die Konzeption des Londoner Gemäldes grundsätzlich zu seinem heutigen Erscheinungsbild und zu der Darstellung der gefallenen Entscheidung verändert wurde (so wurde Paris‘ Bein angewinkelt und er hält Venus als Zeichen des Sieges den Apfel hin), ist umstritten. Die für die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts charakteristischen Pigmente, die in dieser Umgestaltung verwendet wurden, sprächen eigentlich für eine noch zu Rubens‘ Lebzeiten vorgenommene erneute Veränderung. Healy vermutet allerdings mit dem Hinweis auf die nachweisbar auch spätere Verwendung dieser Pigmente in Frankreich sowie auf stilgeschichtliche und kunsttheoretisch-historische Indizien, dass das Londoner Paris-Urteil seine heutige Form erst annahm, als es sich um 1680 in den Sammlungen Richelieu und später Orléans in Paris befand.

Dem französischen, akademisch-strengen Kunstgeschmack, und der an der „Idea dell’bello“ orientierten zeitgenössischen Kritik waren Rubens‘ Kompositionen oft zu wenig klassisch, seine Modelle zu wenig vornehm und die Anspielungen zu erotisch. Daher argumentiert Healy überzeugend, dass man das Londoner Paris-Urteil in Frankreich in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts veränderte – verschwinden sollte die Darstellung der recht anzüglichen Aufforderung Merkurs an die Göttinnen, sich zu entkleiden, sowie die kontemplativ-anzügliche Haltung des Paris. Ebenfalls verschwinden mussten die lüstern schauenden Satyrn, die die Göttinnen unbemerkt beobachten – sicherlich ein von Rubens geschickt angedeutetes Spiegelbild des Betrachters in karikierender Form, das dem französischen Geschmack zu derb gewesen zu sein scheint (s. Oliver/Healy/ Roy/ Billinge 2005, S. 20). Die Darstellung des Paris als abwägender Beobachter der nackten Göttinnen, wie ihn Rubens konzipiert hatte, ließ die Raison d’être des Bildes, den Entscheidungsmoment als die nach der Auffassung der französischen Kunsttheorie elementare Zuspitzung des Bildgeschehens, vermissen. Dass Paris, der für seine Schönheit und Anmut bekannte Prinz von Troja, von Rubens in der Gestalt eines flämischen Hirten mit Schlapphut dargestellt wurde, muss, so Healy, ebenfalls dem französisch-klassizistischen Verständnis für das Dekorum widersprochen haben (s. Oliver/ Healy/ Roy/ Billinge 2005, S. 19). Folglich wurde auch sein Aussehen verändert, bis es eher der Vorstellung eines antiken Helden entsprach. Folglich verschwanden der Schlapphut und Teile des Hemdes und wurde der Gesichtsausdruck angepasst. Auch in seinen anderen Darstellungen des Paris-Urteils hatte sich Rubens für die Darstellung des Abwägens und Grübelns des Helden entschieden, eines Zwiespaltes, den das vorliegende Gemälde noch thematisiert, während sie auf dem Londoner Gemälde durch die Darstellung einer bereits gefallenen Entscheidung zugunsten der Schönheit ersetzt wurde – eine Versinnbildlichung französischen Kunstverständnisses. Bedauerlicherweise ist eine geringe Anzahl an Studien Rubens‘ zu dieser Komposition bekannt geworden. Es existiert überhaupt nur eine Skizze mit explizitem Bezug. Rubens zeichnete sie auf der oberen linken Ecke eines Skizzenblattes (Papier, 15,8 x 41,8 cm, Rotterdam, Museum Bojmans van Beuningen, Inv. V92 verso). Das Londoner Gemälde in seiner zweiten Phase wurde von Rubens offenbar für vollendet befunden. Es diente ihm, seiner Arbeitspraxis entsprechend, als Modell für die weitere Verwertung in der Werkstatt. Über eine verkleinerte, dem vorliegenden Gemälde in den Details im Wesentlichen entsprechende Fassung verfügt die Gemäldegalerie Alter Meister in Dresden (Öl auf Holz, 49 x 63 cm, Inventar-Nr. 962 B). Bis zur Wiederentdeckung des hier angebotenen Gemäldes galt diese für eine Werkstattwiederholung ungewöhnlich kleine Tafel als einzig bekanntes Werk aus der Werkstatt, das – neben späteren und nicht in der Werkstatt entstandenen wesentlich schwächeren Kopien – den Ursprungszustand der Erstfassung wiedergibt. Das Dresdener Gemälde wird in der Literatur gelegentlich als eigenhändig anerkannt (so etwa von M. Jaffé: Rubens, Catalogo Completo, Mailand 1989), auch wenn der vollständig autographe Status in der Vergangenheit angezweifelt worden ist (s. G. Martin, National Gallery Catalogues, The Flemish School, London 1970, S. 153-163). Healy ist der Meinung, dass die Dresdener Tafel in dem Moment entstanden ist, in dem das Londoner Gemälde seinen “Zwischenzustand”, Phase zwei, erreicht hatte: „[…] the existence of the Dresden painting suggests that Rubens considered the painting good enough to be copied by his workshop assistants“ (s. Oliver/ Healy/ Roy/ Billinge 2005, S. 10).

Die Entdeckung des vorliegenden Gemäldes mit nahezu identischen Maßen wie das Londoner Vorbild gibt nun zu der Vermutung Anlass, dass es sich hierbei um die erste, direkt von der Erstfassung übernommene und noch vor deren Veränderung geschaffene Wiederholung des Rubens-Ateliers handelt. Denkbar ist, dass sie auch noch nachdem die Londoner Erstfassung das Atelier in bereits veränderter Form verlassen hatte, dort verblieben ist und möglicherweise als Vorlage verschiedener noch in der Werkstatt oder auch außerhalb der Werkstatt angefertigter Kopien diente, möglicherweise auch als Vorbild der kleinen Dresdener Tafel. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, dass ein Kupferstich, den Adriaen Lommelin vor 1649, aber nach Rubens Tod 1640 von der Komposition anfertigte (Abb. 2) wohl nicht das Londoner Gemälde zeigt, da es eindeutig die Form der zweiten Phase der Londoner Fassung und somit die Komposition der vorliegenden Fassung wiedergibt. Daher könnte möglicherweise auch das wiederentdeckte Gemälde dem Kupferstecher als Vorlage gedient haben (vgl. zum Kupferstich Oliver/ Healy/ Roy/ Billinge 2005, S. 14). Lommelin gab in seiner Dedikation für die dritte Auflage des Kupferstichs den berühmten Antwerpener Sammler Diego Duarte als Eigentümer des Gemäldes an. Fiona Healy argumentiert, dass das Londoner Bild zwar mit dem Paris-Urteil identisch sei, welches sich bis zu seinem Verkauf durch den Kunsthändler Matthijs Musson 1676 in der Sammlung Duarte befand, Lommelin aber eine andere Version als Vorlage nutzte. Später, als ein Gemälde mit annähernd identischer Komposition in der Sammlung Duarte bekannt wurde, gab er in seiner Unterschrift den Stich als Reproduktion von Duartes Paris-Urteil aus, so Healy (vgl. ebd.). Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass es das vorliegende Gemälde war, das sich in der Sammlung Duartes befand, den Lommelin korrekterweise als Eigentümer seiner Vorlage angab. Damit wäre das vorliegende Gemälde Vorbild des Stiches gewesen. Anders als die Londoner Version stellt das vorliegende Gemälde die originale Konzeption des großen Antwerpeners dar und ermöglicht einen faszinierenden Einblick in dessen Werkstattpraxis. Wie die Londoner Erstfassung und die Dresdener Variante demonstriert es Rubens‘ Reife in seinem letzten Lebensjahrzehnt, einstimmig wird diese Version als die ausgereifteste von insgesamt mehreren Auseinandersetzungen mit dem Thema anerkannt.

Martin wies 1970 auf ein weiteres, pikantes Detail der Gemäldefassung hin: Die Göttin Venus ähnelt Rubens‘ zweiter Frau, Helene Fourment, und Minerva deren Schwester Susannah (vgl. Martin, S. 159, Endnote 29). Durch einen hoch professionalisierten arbeitsteiligen Werkstattbetrieb bewältigte Peter Paul Rubens, insbesondere in seiner reifen Schaffensphase der „zweiten Antwerpener Zeit“, ein fast unglaublich umfangreiches Arbeitspensum. Bislang ist es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht gelungen, individuelle Künstlerpersönlichkeiten als Mitarbeiter bei gemeinschaftlich entstandenen Werken zu erkennen. Eine Händescheidung gestaltet sich deshalb so schwierig, weil die Werkstattmitarbeiter sich Rubens‘ Stil so weit anpassten, dass sie als individuelle Künstler nicht mehr zu erkennen sind; dies trifft ebenso auf keinen Geringeren als den später mit eigenen Werken berühmt gewordenen Anthonis van Dyck zu. Diese charakteristische Arbeitsweise ermöglichte es Rubens, mit Schülern selbst Großaufträge in einem homogenen Stil zu bewältigen und diese Gemeinschaftswerke als eigenhändige Gemälde zu veräußern. Die heute gängige Unterscheidung in „Werkstatt“ und „eigenhändig“ wurde von Zeitgenossen bis auf wenige Ausnahmen nicht vorgenommen. Im Vordergrund standen eindeutig die kreative Leistung der Bildidee und die Herkunft aus dem Rubensatelier.



Zusatzabbildungen:
Fig. 1. Die Fassung in London, National Gallery, Öl auf Holz, 144 x 193 cm, Inv. NG 194
Fig. 2. Adrian Lommelin dokumentierte vor 1649 mit einem Kupferstich eine Fassung der Komposition, Sammlung Diego Duarte
Fig. 3, 4. Röntgenaufnahme und Detail der Londoner Fassung
Fig. 5. Vergleich des Londoner (links) und des vorliegenden Gemäldes (rechts)
Fig. 6. Infrarotreflektographie von Lot 27 © NTK 2015 Univ.Prof. Dipl.-Ing. Dr. M. Schreiner
Fig. 7. Rubens, Skizzenblatt, Papier, 15,8 x 41,8 cm, Rotterdam, Museum Bojmans van Beuningen, Inv. V92 verso. (Detail)

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Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
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Auktion: Alte Meister
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 19.04.2016 - 18:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 09.04. - 19.04.2016


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