Lot Nr. 84


Venezianische Schule, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts


Venezianische Schule, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts - Meisterzeichnungen und Druckgraphik bis 1900, Aquarelle, Miniaturen

Christus und die Ehebrecherin, Feder in Braun, braun laviert, auf Bütten, 20,8 x 30,2 cm, Passep., gerahmt, (Sch)

Provenienz:
anonymer Sammlungsstempel (nicht bei Lugt); Privatsammlung, Belgien.

Literatur:
D. Jacquot u.a., De Giotto à Goya. Peintures italiennes et espagnoles du musée des Beaux-Arts de Strasbourg, 2017, S. 145, S. 156, Kat. 72, als “Anonym Venezianisch, 2. Hälfte 16. Jahrhundert”, Katalogeintrag von P. Goldenberg; Domenico Theotocopuli, El Greco. Ausst. Kat., Gazette des Beaux-Arts, Paris, 1937, Nr. 10; D. Freedberg, The Prints of Pieter Bruegel the Elder, Tokyo, 1989, S. 53 ff; X. Bray in: El Greco, Ausst. Kat. Metropolitan Museum of Art, New York und National Gallery, London, 2003, S. 118-9, no. 19; N. Turner, ‘A Proposal for El Greco as a Draftsman,’ in: Master Drawings, Vol. 45, Nr. 3 (Herbst 2007), S. 291-324, und R. Scorza, ‘El Greco: “Calligrafia,” “Disegno,” and Context,’ in: Master Drawings, Vol. 51, Nr. 4 (Winter 2014), S. 429-42; Fernando Marías, El Greco: Life and Work – A New History, London 2013, S. 21, 56, 69, 216, 104-5, 109; J. Marciari (Hg.), Drawing in Tintoretto’s Venice, Ausst. Kat. Morgan Library and Museum, New York 2018, “The Drawings of the Young El Greco in Italy?”, S. 167-183.

Die vorliegende Zeichnung mit Christus und der Ehebrecherin steht in Verbindung mit einem kleinformatigen Gemälde desselben Themas im Musée des Beaux-Arts in Straßburg (Abb. 1), welches das Pendant zu einem zweiten Gemälde derselben Hand mit der Hochzeit zu Kanaa bildet (vgl. Jacquot 2017, S. 145, Kat. 72). Die beiden Gemälde wurden 1891 von Wilhelm von Bode (1845-1929), dem damals neu ernannten Direktor des Straßburger Museums, von dem Kunsthändler Carl Zuber in Venedig als Werke von Jacopo Tintoretto (1518-1594) erworben. 

Zwischen den zwei Weltkriegen waren beide Gemälde in Straßburg an Domínikos Theotokópoulos gen. El Greco (1541-1614) zugeschrieben. Den Archiven des Museums zufolge wurde diese Zuschreibung von Dr. Hugo Kehrer (1876-1967), einem deutschen Experten für spanische Malerei im Jahre 1934 vorgeschlagen. Auch der ihm nachfolgende Experte Dr. August Mayer (1885-1944) hielt an dieser Zuschreibung fest. Im Jahre 1937 wurden beide Gemälde als Werke El Grecos in einer von der Gazette des Beaux-Arts organisierten Ausstellung zu dem Künstler gezeigt und erregten dort einigen Berichten zufolge großes Interesse (vgl. Domenico Theotocopuli, El Greco, Exposition organisé par la Gazette des Beaux-Arts, Paris 1937, Nr. 10). In einer 1947 von dem Experten Dr. Martin Soria verfassten Stellungnahme an das Museum wurde jedoch die Zuschreibung an El Greco zurückgewiesen. Seither sind beide Gemälde in Straßburg mit der Zuschreibung „Anonym Venezianisch, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts“ katalogisiert (Vgl. D. Jacquot 2017, S. 145, S. 156, Kat. 72).

Die Komposition des Gemäldes, vor allem die Figuren von Christus und der Ehebrecherin, sind mit ein paar Abweichungen dem Grisaille-Gemälde von Pieter Brueghel dem Älteren (1525-1569) (Courtault Institute Galleries, London) entnommen, welches von dem niederländischen Kupferstecher Pieter Perret (1555-1639) reproduziert und 1579 in Antwerpen veröffentlicht wurde (Abb. 2). Mehr als das Gemälde Brueghels, welches noch viele Jahre nach seiner Entstehung in Antwerpen blieb, dürfte der Kupferstich von Perret als Vorlage für den Zeichner gedient haben. Sein Erscheinungsjahr 1579 kann somit auch als terminus post quem für die Entstehungszeit der Zeichnung gesehen werden. Jan Brueghel der Ältere (1568-1625) hatte das Gemälde nach dem Tod seines Vaters 1569 geerbt und übersiedelte vor 1583 von Brüssel nach Antwerpen, wo er seine Lehre bei Pieter Goetkint (gest. 1583) fortsetzte. Pieter Perret wurde in Antwerpen geboren und erhielt dort seine künstlerische Ausbildung. Er war später in Venedig und Rom tätig, den Großteil seiner Karriere verbrachte er jedoch in Spanien, hauptsächlich in Madrid.

Die Unterschiede zwischen dem Gemälde mit Christus und der Ehebrecherin und der vorliegenden Zeichnung deuten darauf hin, dass es sich dabei um eine vorbereitende Studie und nicht um eine Kopie handeln dürfte. Was die ehemalige Zuschreibung des Gemäldes und seines Pendants mit der Hochzeit zu Kanaa in Straßburg anbelangt, haben Nicholas Turner und Rick Scorza darauf hingewiesen, dass deren Katalogisierung als „Anonym Venezianisch“ sowie die ehemalige Zuordnung an El Greco neu untersucht werden sollten. In dieser Hinsicht wurde jedoch auch bemerkt, dass es sich bei den Gemälden möglicherweise um Kopien nach heute nicht mehr erhaltenen Werken handelt. Die vorliegende Zeichnung könnte jedenfalls in Hinblick auf die Zuschreibung der beiden Gemälde neue Erkenntnisse liefern.

Laut Meinung von Nicholas Turner ist die vorliegende Studie stilistisch mit einer Gruppe von fünf Zeichnungen vergleichbar, die nach heutiger Forschungslage in der Literatur als eigenhändige Zeichnungen El Grecos publiziert sind. Hervorzuheben ist dabei besonders die Studie des Hl. Johannes des Täufers, ehemals Sammlung Krugier Genf, für das große Altargemälde in Toledo, welches 1577 im Auftrag der Kirche Santo Domingo al Antiguo vollendet wurde (siehe Bray 2003, S. 118-19, Nr. 19). Des Weiteren erwähnt Turner eine Gruppe von fünfzig lavierten Federzeichnungen, die erst kürzlich El Greco zugeschrieben wurden und aus seiner Italienischen Periode stammen dürften. Einige dieser Studien sind auch handschriftlich vom Künstler bezeichnet (siehe Turner 2007, S. 291-324 und Scorza 2014, S. 429-42) und waren größtenteils zuvor an venezianische Künstler des 16. Jahrhunderts wie Tintoretto und Palma il Giovane zugeschrieben. Sie wirken stilistisch etwas gröber und weisen in den Lavierungen einen stärkeren Chiaroscuro-Effekt auf, die Figuren sind jedoch wie in der vorliegenden Studie stark von Tintorettos Gemälden beeinflusst.

Trotz der stilistischen Ähnlichkeiten mit jener Gruppe von Zeichnungen, die heute als gesicherte Werke El Grecos gelten und jüngst in einer Ausstellung in der Morgan Library and Museum in New York gezeigt wurden (siehe Marciari 2018, S. 167-183), sind noch viele Fragen zum zeichnerischen Oeuvre des Künstlers offen. Aufgrund der aktuellen Zuschreibung des Gemäldes mit Christus und der Ehebrecherin in Straßburg an einen anonymen venezianischen Künstler aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, kann auch die vorliegende Zeichnung, bei der es sich um eine Vorstudie zu dem Gemälde handeln dürfte, nur einem anonymen venezianischen Künstler jener Zeit zugeschrieben werden. Wenn die Komposition Breughels bzw. der Kupferstich Perrets die Quelle für die beiden Hauptfiguren des Gemäldes und der Zeichnung waren, dann können beide Werke um 1579 oder später datiert werden. 

Wir danken Dr. Nicholas Turner und Dr. Rick Scorza für die wissenschaftliche Unterstützung und die alternative Zuschreibung an El Greco. 

Expertin: Mag. Astrid-Christina Schierz Mag. Astrid-Christina Schierz
+43-1-515 60-546

astrid.schierz@dorotheum.at

10.04.2019 - 14:00

Erzielter Preis: **
EUR 11.250,-
Schätzwert:
EUR 8.000,- bis EUR 12.000,-

Venezianische Schule, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts


Christus und die Ehebrecherin, Feder in Braun, braun laviert, auf Bütten, 20,8 x 30,2 cm, Passep., gerahmt, (Sch)

Provenienz:
anonymer Sammlungsstempel (nicht bei Lugt); Privatsammlung, Belgien.

Literatur:
D. Jacquot u.a., De Giotto à Goya. Peintures italiennes et espagnoles du musée des Beaux-Arts de Strasbourg, 2017, S. 145, S. 156, Kat. 72, als “Anonym Venezianisch, 2. Hälfte 16. Jahrhundert”, Katalogeintrag von P. Goldenberg; Domenico Theotocopuli, El Greco. Ausst. Kat., Gazette des Beaux-Arts, Paris, 1937, Nr. 10; D. Freedberg, The Prints of Pieter Bruegel the Elder, Tokyo, 1989, S. 53 ff; X. Bray in: El Greco, Ausst. Kat. Metropolitan Museum of Art, New York und National Gallery, London, 2003, S. 118-9, no. 19; N. Turner, ‘A Proposal for El Greco as a Draftsman,’ in: Master Drawings, Vol. 45, Nr. 3 (Herbst 2007), S. 291-324, und R. Scorza, ‘El Greco: “Calligrafia,” “Disegno,” and Context,’ in: Master Drawings, Vol. 51, Nr. 4 (Winter 2014), S. 429-42; Fernando Marías, El Greco: Life and Work – A New History, London 2013, S. 21, 56, 69, 216, 104-5, 109; J. Marciari (Hg.), Drawing in Tintoretto’s Venice, Ausst. Kat. Morgan Library and Museum, New York 2018, “The Drawings of the Young El Greco in Italy?”, S. 167-183.

Die vorliegende Zeichnung mit Christus und der Ehebrecherin steht in Verbindung mit einem kleinformatigen Gemälde desselben Themas im Musée des Beaux-Arts in Straßburg (Abb. 1), welches das Pendant zu einem zweiten Gemälde derselben Hand mit der Hochzeit zu Kanaa bildet (vgl. Jacquot 2017, S. 145, Kat. 72). Die beiden Gemälde wurden 1891 von Wilhelm von Bode (1845-1929), dem damals neu ernannten Direktor des Straßburger Museums, von dem Kunsthändler Carl Zuber in Venedig als Werke von Jacopo Tintoretto (1518-1594) erworben. 

Zwischen den zwei Weltkriegen waren beide Gemälde in Straßburg an Domínikos Theotokópoulos gen. El Greco (1541-1614) zugeschrieben. Den Archiven des Museums zufolge wurde diese Zuschreibung von Dr. Hugo Kehrer (1876-1967), einem deutschen Experten für spanische Malerei im Jahre 1934 vorgeschlagen. Auch der ihm nachfolgende Experte Dr. August Mayer (1885-1944) hielt an dieser Zuschreibung fest. Im Jahre 1937 wurden beide Gemälde als Werke El Grecos in einer von der Gazette des Beaux-Arts organisierten Ausstellung zu dem Künstler gezeigt und erregten dort einigen Berichten zufolge großes Interesse (vgl. Domenico Theotocopuli, El Greco, Exposition organisé par la Gazette des Beaux-Arts, Paris 1937, Nr. 10). In einer 1947 von dem Experten Dr. Martin Soria verfassten Stellungnahme an das Museum wurde jedoch die Zuschreibung an El Greco zurückgewiesen. Seither sind beide Gemälde in Straßburg mit der Zuschreibung „Anonym Venezianisch, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts“ katalogisiert (Vgl. D. Jacquot 2017, S. 145, S. 156, Kat. 72).

Die Komposition des Gemäldes, vor allem die Figuren von Christus und der Ehebrecherin, sind mit ein paar Abweichungen dem Grisaille-Gemälde von Pieter Brueghel dem Älteren (1525-1569) (Courtault Institute Galleries, London) entnommen, welches von dem niederländischen Kupferstecher Pieter Perret (1555-1639) reproduziert und 1579 in Antwerpen veröffentlicht wurde (Abb. 2). Mehr als das Gemälde Brueghels, welches noch viele Jahre nach seiner Entstehung in Antwerpen blieb, dürfte der Kupferstich von Perret als Vorlage für den Zeichner gedient haben. Sein Erscheinungsjahr 1579 kann somit auch als terminus post quem für die Entstehungszeit der Zeichnung gesehen werden. Jan Brueghel der Ältere (1568-1625) hatte das Gemälde nach dem Tod seines Vaters 1569 geerbt und übersiedelte vor 1583 von Brüssel nach Antwerpen, wo er seine Lehre bei Pieter Goetkint (gest. 1583) fortsetzte. Pieter Perret wurde in Antwerpen geboren und erhielt dort seine künstlerische Ausbildung. Er war später in Venedig und Rom tätig, den Großteil seiner Karriere verbrachte er jedoch in Spanien, hauptsächlich in Madrid.

Die Unterschiede zwischen dem Gemälde mit Christus und der Ehebrecherin und der vorliegenden Zeichnung deuten darauf hin, dass es sich dabei um eine vorbereitende Studie und nicht um eine Kopie handeln dürfte. Was die ehemalige Zuschreibung des Gemäldes und seines Pendants mit der Hochzeit zu Kanaa in Straßburg anbelangt, haben Nicholas Turner und Rick Scorza darauf hingewiesen, dass deren Katalogisierung als „Anonym Venezianisch“ sowie die ehemalige Zuordnung an El Greco neu untersucht werden sollten. In dieser Hinsicht wurde jedoch auch bemerkt, dass es sich bei den Gemälden möglicherweise um Kopien nach heute nicht mehr erhaltenen Werken handelt. Die vorliegende Zeichnung könnte jedenfalls in Hinblick auf die Zuschreibung der beiden Gemälde neue Erkenntnisse liefern.

Laut Meinung von Nicholas Turner ist die vorliegende Studie stilistisch mit einer Gruppe von fünf Zeichnungen vergleichbar, die nach heutiger Forschungslage in der Literatur als eigenhändige Zeichnungen El Grecos publiziert sind. Hervorzuheben ist dabei besonders die Studie des Hl. Johannes des Täufers, ehemals Sammlung Krugier Genf, für das große Altargemälde in Toledo, welches 1577 im Auftrag der Kirche Santo Domingo al Antiguo vollendet wurde (siehe Bray 2003, S. 118-19, Nr. 19). Des Weiteren erwähnt Turner eine Gruppe von fünfzig lavierten Federzeichnungen, die erst kürzlich El Greco zugeschrieben wurden und aus seiner Italienischen Periode stammen dürften. Einige dieser Studien sind auch handschriftlich vom Künstler bezeichnet (siehe Turner 2007, S. 291-324 und Scorza 2014, S. 429-42) und waren größtenteils zuvor an venezianische Künstler des 16. Jahrhunderts wie Tintoretto und Palma il Giovane zugeschrieben. Sie wirken stilistisch etwas gröber und weisen in den Lavierungen einen stärkeren Chiaroscuro-Effekt auf, die Figuren sind jedoch wie in der vorliegenden Studie stark von Tintorettos Gemälden beeinflusst.

Trotz der stilistischen Ähnlichkeiten mit jener Gruppe von Zeichnungen, die heute als gesicherte Werke El Grecos gelten und jüngst in einer Ausstellung in der Morgan Library and Museum in New York gezeigt wurden (siehe Marciari 2018, S. 167-183), sind noch viele Fragen zum zeichnerischen Oeuvre des Künstlers offen. Aufgrund der aktuellen Zuschreibung des Gemäldes mit Christus und der Ehebrecherin in Straßburg an einen anonymen venezianischen Künstler aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, kann auch die vorliegende Zeichnung, bei der es sich um eine Vorstudie zu dem Gemälde handeln dürfte, nur einem anonymen venezianischen Künstler jener Zeit zugeschrieben werden. Wenn die Komposition Breughels bzw. der Kupferstich Perrets die Quelle für die beiden Hauptfiguren des Gemäldes und der Zeichnung waren, dann können beide Werke um 1579 oder später datiert werden. 

Wir danken Dr. Nicholas Turner und Dr. Rick Scorza für die wissenschaftliche Unterstützung und die alternative Zuschreibung an El Greco. 

Expertin: Mag. Astrid-Christina Schierz Mag. Astrid-Christina Schierz
+43-1-515 60-546

astrid.schierz@dorotheum.at


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kundendienst@dorotheum.at

+43 1 515 60 200
Auktion: Meisterzeichnungen und Druckgraphik bis 1900, Aquarelle, Miniaturen
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 10.04.2019 - 14:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 03.04. - 10.04.2019


** Kaufpreis inkl. Käufergebühr und Mehrwertsteuer

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