Lot Nr. 140


Raffaello Sanzio, gen. Raffael

[Saleroom Notice]

(Urbino 1483–1520 Rom)
Recto: Studie für die Schlacht an der Milvischen Brücke: ein Reiter und Kopf und Auge eines Pferdes,
bezeichnet auf der Montierung: par RAPHAEL,
rote Kreide und Feder auf Papier, 22 x 24 cm, gerahmt

Polidoro da Caravaggio
(Caravaggio um 1499 – um 1543 Messina)
Verso: Studien für die Konstantinische Schenkung(?): Salomonische Säule und sitzende männliche Figuren,
Rote Kreide und schwarze Kreide auf Papier, 22 x 24 cm, gerahmt

Provenienz:
vermutlich Privatsammlung, Frankreich, bis in die 1920er- oder 1930er-Jahre;
Iohan Quirijn van Regteren Altena (1899–1980), Amsterdam;
Weitergabe im Erbgang;
Auktion, Paris, Dessins anciens et du XIXe siècle incluant la Collection I. Q. van Regteren Altena. III. Ecoles Français et Italiens, 25. März 2015, Lot 7 (als Italienische Schule, 16. Jahrhundert);
dort erworben durch den jetzigen Besitzer

Ausgestellt:
Amsterdam, Rijksmuseum, Italiaanse tekeningen uit een Amsterdamse collectie, 24. April – 28. Juni 1970, Nr. 16 (als Polidoro da Caravaggio)

Literatur:
I. Q. van Regteren Altena, Rubens as a Draughtsman, in: The Burlington Magazine, Bd. 76, Nr. 447, Juni 1940, S. 199, Tafel II, A und B (als P. P. Rubens);
s. a., Italiaanse tekeningen uit een Amsterdamse collectie, Ausstellungskatalog, Amsterdam 1970, S. 13, Nr. 16, Abb. 9 (als Polidoro da Caravaggio);
P. Leone de Castris, Polidoro da Caravaggio. L’opera completa, Neapel 2001, S. 181, Abb. 204, 205, S. 467, Nr. D 4 (als Polidoro da Caravaggio)

Wir danken Professor Paul Joannides, der die Zuschreibungen der Zeichnungen auf beiden Seiten des vorliegenden Blattes bestätigt hat, für seine Hilfe bei der Katalogisierung des Lots.

Geschichte der Zeichnung

Das vorliegende Blatt wurde vermutlich in den späten 1920er- oder frühen 1930er-Jahren von dem Gelehrten und Sammler Iohan Quirijn van Regteren Altena erworben und stammt zweifellos aus einer (bis dato unbekannten) französischen Sammlung. 1940 publizierte der Sammler die beiden Seiten des Blattes im Burlington Magazine als Arbeiten Peter Paul Rubens’. Er bildete sie als kontrastreiche Schwarzweiß-Fotografien ab, was die Formen verunklärte und ihnen eine irreführende Schärfe verlieh. Obzwar angesichts der Qualität der Zeichnungen und der ihnen innewohnenden Energie nachvollziehbar, war diese Zuschreibung offensichtlich unrichtig und fand bei Rubensexperten keine Beachtung. 1970 nahm van Regteren Altena das Blatt in den Katalog der seiner Sammlung gewidmeten Ausstellung auf; er bildete (in schlechter Qualität) ausschließlich die Vorderseite ab und schrieb sie Polidoro da Caravaggio zu. Dabei stützte er sich auf das Urteil dreier herausragender Wissenschaftler – John Gere, Konrad Oberhuber und John Shearman –, jedoch ohne anzugeben, ob deren Einschätzungen auf Fotografien oder auf dem Studium des Originals beruhten.

Im Jahr 2001 wies Pierluigi Leone de Castris in seiner bedeutenden Monografie des Künstlers sowohl Recto als auch Verso den ersten der Wissenschaft bekannten Zeichnungen des Polidoro da Caravaggio zu, zog jedoch für die Abbildungen des beidseitig bezeichneten Blattes jene des Burlington Magazine heran, wobei er wohl keine Gelegenheit hatte, auch das Original zu prüfen (siehe Literatur). Als das Werk 2015 in der Auktion der Sammlung van Regteren Altenas zum Verkauf angeboten wurde, wurde die Zuschreibung an Polidoro zwar erwähnt, aber verworfen, und das Blatt allgemein – und unzureichend – als italienische Schule des 16. Jahrhunderts katalogisiert. Es wurde in dieser Auktion vom aktuellen Besitzer erworben, der allmählich zu dem Schluss kam, dass die Rückseite zwar ein Werk Polidoros war, die Vorderseite jedoch Raffael zugeschrieben werden konnte. Das Blatt wurde Professor Paul Joannides zur Kenntnis gebracht, der die Zuschreibung der Zeichnungen in roter Kreide auf der Vorderseite an Raffael akzeptiert und eine Analyse zu dem Blatt erstellt hat, deren Verwendung er uns gestattet hat.

Die Stanzen im Vatikan

Raffael begann 1508 im Vatikan zu arbeiten und war dort zwölf Jahre, bis zu seinem plötzlichen Tod im April 1520, aktiv. Seine dortige Tätigkeit galt in erster Linie einer Reihe von Fresken für die Stanze Vaticane, vier Säle, die heute zu den Vatikanischen Museen gehören und die damals die weitläufigen Gemächer für Papst Julius II. bildeten, der sie bis 1513 bewohnte. Danach setzte sein Nachfolger Leo X. mit der Ausstattung der Räumlichkeiten fort. Der letzte dieser Räume, die Sala di Costantino, wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1519 begonnen und diente päpstlichen Empfängen und der Abhaltung offizieller Feierlichkeiten.

Zwischen 1508 und 1514 war Raffael in erster Linie mit der Ausstattung der Stanza della Segnatura und der Stanza d’Eliodoro, beides Räume mit gewölbten Wänden, befasst, von denen zwei durch Fenster unterbrochen waren. Zwischen 1514 und 1517 arbeitete er mit Unterstützung seiner Gehilfen, aber auch mit Behinderungen konfrontiert, im dritten Raum, der Stanza dell’Incendio, deren Wände ebenfalls gewölbt waren und die unregelmäßige Unterbrechungen aufwiesen, was die Arbeit erschwerte. Die Ausführung der Stanza dell’Incendio fiel mit drei weiteren großen Projekten zusammen, deren Oberaufsicht ebenfalls Raffael oblag: der Freskierung der Sala dei Palafrenieri und der Logge sowie den aquarellierten Kartons für die Tapisserien der Sixtinischen Kapelle.

Die Freskenausstattung wurde zur Gänze von Raffaels Gehilfen ausgeführt, doch die Kartons für die Tapisserien sind größtenteils eigenhändig. Die Gestaltung der Sala dei Palafrenieri bestand aus illusionistischen Marmorstatuen der Apostel – eine Spezialität Raffaels –, während die Kartons für die Wandteppiche – große Kompositionen in feierlich-neomasaccesker Manier – mit der Sala dei Palafrenieri die strenge und eindrückliche Klarheit teilten. Sie boten jedoch relativ wenig Gelegenheit für abwechslungsreiche Handlungen und Emotionen und noch weniger die Möglichkeit einer romanisierenden Epik. Die Logge hingegen waren eine Einladung an Raffael, seiner Begabung als Geschichtenerzähler in 52 narrativen Fresken unterschiedlichster Sujets freien Lauf zu lassen, dies allerdings nur in unbefriedigend kleinem Maßstab.

Raffael muss also der Arbeit in der großen rechteckigen und relativ störungsfreien Sala di Costantino mit ihrer flachen Decke (für die er vermutlich Entwürfe anfertigte) und den drei durchgehenden Wänden erwartungsvoll entgegengeblickt haben.

Das Projekt bot ihm die Möglichkeit, einen historisch-dramatischen Zyklus zu gestalten, mit dem er seine bisherigen Errungenschaften weiterentwickeln und ausbauen konnte. Er würde es an Theatralik und humanistischem Fokus mit den Werken der Dichter und Historiker aufnehmen können, die er selbst im Parnass porträtiert hatte; was archäologische Akkuratesse betraf, würde er mit dem Triumph Caesars von Mantegna wetteifern können, einem von Raffaels Helden und Vorbildern, dem er nacheiferte.

Womöglich noch wichtiger mochte ihm erschienen sein, dass ihn seine Schlacht an der Milvischen Brücke, das größte und dynamischste der vier Fresken, das ganz den antiken Schlachtenreliefs geschuldet war, in die Lage versetzen würde, die verlorenen Schlachtenszenen seines einstigen Mentors Leonardo und seines älteren Zeitgenossen und Rivalen Michelangelo für die Sala del Gran Consiglio im Palazzo Vecchio in Florenz hinsichtlich Wirkkraft und anatomischer Erfindungsgabe zu übertreffen: Projekte, deren Ruhm, wie Vasari uns berichtet, Raffael zunächst in die Toskana gezogen hatten und die ihn nach wie vor inspirierten. Selbst in seiner Florentiner Zeit, der Periode seiner „lieblichen Madonnen“, schuf er Zeichnungen von Schlachten, die im Original oder als Kopien existierten – eine Faszination, die sich in Rom fortsetzte (siehe zum Beispiel die um 1507 entstandenen Zeichnungen von Schlachten im Ashmolean Museum, Oxford).

Die von Leonardo und Michelangelo gestalteten Schlachten waren höchst ambitioniert und einflussreich, doch so sehr ihre Entwürfe über die Bildinhalte hinausgingen, bezogen sich diese im Speziellen doch nur auf Episoden aus der Geschichte von Florenz und der Toskana: Cascina, ein militärisches Geplänkel mit Pisa des Jahres 1364, das historisch bedeutendere Anghiari, die Niederschlagung des Mailänder Expansionismus von 1440. Konstantins Sieg über Maxentius an der Milvischen Brücke war eine Schlacht von ganz anderer Größenordnung, ein welthistorisches Ereignis, das, auf den Punkt gebracht, für den Sturz des Heidentums und die Errichtung eines christlichen Reichs unter göttlicher Führung in Rom, der Hauptstadt der Welt, stand. Die Bühne betraten hier nicht unbekannte Söldnerführer, sondern ein Mann, der erster christlicher Kaiser werden sollte, und sein heidnischer Widerpart: die Repräsentanten von Himmel und Hölle gewissermaßen. Es konnte kaum ein bedeutsameres Bildthema geben. Die Schlacht, die Raffael konzipierte, deren Ausführung er jedoch nicht mehr erlebte, war eine seiner größten und einflussreichsten Errungenschaften, wie unter vielen anderen Rubens, Pietro da Cortona, Charles Le Brun und Eugène Delacroix bezeugen konnten.

Die Sala di Costantino

Für die Sala di Costantino plante Raffael vier Fresken mit Episoden aus dem Leben Konstantins. In der zeitlichen Abfolge sind dies: Die Erscheinung des Kreuzes auf der Ostwand, Die Schlacht an der Milvischen Brücke auf der Südwand, Die Taufe Konstantins auf der Westwand und Die Schenkung Roms (Konstantins [fiktive] Verleihung weltlicher Macht an das Papsttum) auf der Nordwand. Das größte und anspruchsvollste Fresko des Raumes war und ist die ungemein komplexe und vielfigurige Komposition der Schlacht an der Milvischen Brücke. In ihrer finalen gemalten Form ist sie etwa 7 Meter hoch und 18 Meter breit und umfasst zwischen 50 und 60 Männer und über ein Dutzend Pferde.

Ein derart ambitioniertes Unterfangen erforderte aufwendige Recherchen, wie Rüstung und Ausstattung wohl zur Zeit Konstantins ausgesehen haben mochten, um Raffaels archäologischen Ansprüchen Genüge zu tun. Es entstanden Dutzende vorbereitende Kompositions- und Figurenstudien, von denen nur eine Handvoll bekannt ist. Nicht alle diese Studienblätter stammen von Raffael selbst; einige der erhaltenen Figurenzeichnungen schuf sein engster Gehilfe und Mitarbeiter Giulio Romano, während die modelli für die Schlacht an der Milvischen Brücke und die Erscheinung des Kreuzes von Raffaels bodenständigerem Mitarbeiter Gianfrancesco Penni ausgeführt wurden. Raffael war sich bewusst, dass seine Arbeit im davor entstandenen Raum, der Stanza dell’Incendio, heftig kritisiert worden war. Seine Rivalen Michelangelo und Sebastiano del Piombo hatten seinen Ruf angekratzt, und er hätte wohl jede Anstrengung unternommen, um seinen Kritikern Paroli zu bieten. Man kann davon ausgehen, dass er bei der Planung des Saales ganz bei der Sache war und die Ausführung der Historienbilder genauestens überwachte (und womöglich sogar mitarbeitete).

Raffael verstarb im April 1520, vermutlich kurz nachdem Giulio Romano an den Enden der Süd- und Ostwand ein allegorisches Figurenpaar gemalt hatte, jedoch noch vor Beginn der gemalten Umsetzung der Schlacht an der Milvischen Brücke. Es ist das einzige der vier Fresken, das Raffaels Ideenfindung ohne Abweichungen folgt. Nach seinem Tod wurden die Arbeiten in der Sala di Costantino fortgesetzt, allen voran durch Giulio Romano, dem daran gelegen war, dem Zyklus seinen persönlichen Stempel aufzudrücken. Im Dezember 1521, nach Vollendung der Erscheinung des Kreuzes, bei der Giulio die Gelegenheit ergriff, eigene Vorstellungen umzusetzen, wurden die Arbeiten durch den Tod von Leo X. unterbrochen. Sie wurden erst Ende 1523 wieder aufgenommen, nachdem Leos Cousin Kardinal Giulio zu Papst Klemens VII. gewählt worden war. Erst in dieser zweiten Phase wurden Taufe und Schenkung gemalt. Die Hauptszenen wurden Mitte 1524 vollendet. Danach reiste Giulio Romano nach Mantua. Der Sockelbereich wurde vermutlich erst Ende des Jahres oder Anfang 1525 fertiggestellt.

Gianfrancesco Pennis großes modello für die Schlacht an der Milvischen Brücke, in dem das gesamte Fresko und die Aufteilung der aufeinander bezogenen Details angelegt sind, befindet sich im Louvre in Paris. Es entstand zweifellos noch zu Lebzeiten Raffaels und folgte seinen Vorstellungen überaus getreu: Höchstwahrscheinlich wurde es dem Papst zur Freigabe vorgelegt. Ein Fragment des finalen Kartons, das vermutlich unmittelbar vor Raffaels Tod entstand, wird in der Ambrosiana in Mailand aufbewahrt: Es wurde von Giulio Romano gezeichnet und unterscheidet sich minimal von den betreffenden Passagen im modello und im vollendeten Fresko.

Zu den Einzelfiguren im Fresko haben sich drei Aktstudien erhalten, alle ausgeführt in schwarzer Kreide. Sie scheinen nach dem modello entstanden zu sein, um die Körperhaltung betreffende Details zu präzisieren, doch noch vor dem Karton. Diese Zeichnungen, die allesamt Soldaten des Maxentius darstellen, entsprechen Figuren, die in der gemalten Schlacht von links nach rechts erscheinen: eine Studie Raffaels für einen heroischen Fußsoldaten im Louvre; ein stürzender Kavallerist von Giulio Romano in Vorbereitung eines im Fresko eine Rüstung tragenden Soldaten in der Devonshire Collection in Chatsworth; und schließlich eine Studie Raffaels zweier in den Tiber geworfener Soldaten bei dem Versuch, in ein Boot zu klettern, im Ashmolean Museum in Oxford. Die drei Studien drehen sich jeweils um den furchtlosen Widerstand gegen den Vorstoß Konstantins, eine kopfüber hingenommene Niederlage und den zum Scheitern verurteilten Versuch zu überleben; in diesem Sinn veranschaulichen sie – auch wenn dies unerheblich sein mag – den Verlauf der Schlacht. Zweifellos reihten sich viele heute verlorene Blätter zu ihnen, die bestimmte Bereiche des Freskos betrafen. Schwarze Kreide klärte – und vereinfachte bis zu einem gewissen Grad – die dem Fresko innewohnende skulpturale Anmutung der Schlacht an der Milvischen Brücke und half bei der ausgewogenen Verteilung des Helldunkels.

Die Zeichnung in roter Kreide auf der Vorderseite des vorliegenden Blattes, die ein stürzendes Pferd und seinen in der Falle sitzenden Reiter darstellt, der vergeblich versucht, sich vor dem coup de grace zu retten, den ihm ein Fußsoldat sogleich versetzen wird, kann nun den bisher aufgefundenen vorbereitenden Studienblättern hinzugefügt werden; sie lässt sich jedoch nicht der Gruppe schwarzer Kreidezeichnungen zuweisen und unterscheidet sich auch von ihrem Wesen her. Es handelt sich nicht um die gleichmäßig fokussierte Studie einer Einzelfigur – das Pferd ist ausdrucksstärker und genauer charakterisiert als sein Reiter –, sondern um eine im Bildzusammenhang entwickelte Skizze mit unterschiedlicher Emphase. Das Blatt ist in roter Kreide ausgeführt, was sowohl ein selektives Wischen als auch ein verlaufendes Modellieren und damit eine abwechslungsreichere Akzentuierung als Schwarz ebenso ermöglicht wie subtilere Verläufe als die Feder.

Die Modellierung variiert weithin und ist wirkungsvoll platziert: Vielsagend ist etwa das Relief des Pferdekopfes mit seinen erschrockenen Augen, während der Ausdruck des Reiters bloß angedeutet ist. Raffael hat die rote Kreide, die von Natur aus heller ist als Schwarz, womöglich auch deshalb für den stürzenden Kavalleristen gewählt, weil für diesen Bereich des Freskos ohnehin eine hellere Farbigkeit vorgesehen war, um eine besonders bedeutsame Gruppe ins Licht zu rücken. Wie wir von Studien für die Loggia der Psyche und die Stanza dell’Incendio wissen, hatte Raffael in dieser Schaffensphase für Skizzen oder vorbereitende Zeichnungen der Zwischenstufe eine Vorliebe für rote Kreide entwickelt, wobei das Medium allmählich Aufgaben übernahm, die davor der Feder zugefallen waren. In der Tat haben sich gewisse Elemente der vorliegenden Zeichnung, insbesondere der flott umrissene Reiter, etwas von Raffaels später Federtechnik bewahrt, wie man sie in Zeichnungen wie der Entführung der Helena aus der Zeit um 1517 der Devonshire Collection in Chatsworth (Inv.-Nr. 903) beobachten kann; auch die Verwendung kleiner Kreise zur Andeutung der Augen ist beiden Zeichnungen gemeinsam.

Frühere Autoren sind, ohne die Sache zu hinterfragen, davon ausgegangen, dass es sich bei der Gruppe der Vorderseite um eine Kopie des betreffenden Bereichs von Raffaels Bildfindung handelt, wobei man die ergänzenden Skizzen ignoriert hat. Doch abgesehen von der frischen, lebendigen und abwechslungsreichen Umsetzung, die bei Kopien äußerst selten anzutreffen ist und die Weite und Volumen sehr viel erfolgreicher vermittelt als das modello, unterscheidet sich die Gruppe deutlich sowohl von Pennis modello als auch vom Fresko selbst. Sie weicht insofern vom modello ab, als der Reiter hier ein anderes Gewand trägt und seine Rechte das Schwert in einem anderen Winkel hält; das linke Vorderbein wird im modello von einer anderen Form überlappt, hier jedoch nicht. Der Winkel des Kopfes von Konstantins Schlachtross ist in der Nebenskizze spitzer; die Studie des Auges ist detailreich und bestimmt. Tatsächlich scheint die Blickkette der Pferde als besonders ausdrucksstarkes Stilmittel des Freskos in dieser Zeichnung ihren Ausgang genommen zu haben. Eine solche auf die Darstellung von Augen gerichtete Aufmerksamkeit, wenn diese auch selten derart isoliert erscheinen wie hier, ist typisch für Raffaels dramatische Szenen und findet sich in mehreren seiner vorbereitenden Zeichnungen, beispielsweise in seiner Studie einer knienden Dienerin von etwa 1518 für die Loggia der Psyche, die sich heute in der Scottish National Gallery in Edinburgh (Inv.-Nr. D5154) befindet.

Andererseits ist nicht schwer nachzuvollziehen, warum man glaubte, die Zeichnung wäre auf das Fresko gefolgt, zumal sie doch nahe an das herankommt, was gemalt wurde. Die drei zarten Linien oben rechts deuten die Brücke an und bestimmen die Position des gestürzten Kavalleristen im Bild. Der Kontext wird jedoch nur angedeutet und nicht beschrieben, wie es bei einer Kopie der Fall wäre. Es gibt zahlreiche Unterschiede zur gemalten Gruppe, die zumeist klein, aber dennoch von Bedeutung sind. Das Kostüm des Reiters im Fresko unterscheidet sich gegenüber der vorliegenden Studie: In der gemalten Darstellung ist der hintere Arm nackt und der vordere von der Rüstung bedeckt, während auf der Zeichnung beide Arme von einem leichten Gewand umhüllt scheinen, wenn dieses auch schwer auszumachen ist. Die in der Brust des sterbenden Pferdes steckende Speerspitze als höchst dramatisches Element des Freskos fehlt auf der vorliegenden Zeichnung. Die Konturen des Brustkorbs des Pferdes wurden im Fresko verändert, was auch für die Formgebung von Kopf und Mähne gilt. Auf der Zeichnung findet sich kein Hinweis auf den Soldaten mit erhobenem Dolch, der im Fresko den Kopf des Reiters hinunterdrückt, um ihn zu töten: Man möchte meinen, dass eine Kopie dies beinhaltet hätte.

Vergleicht man das Fresko, das nicht vom Meister, sondern von Giulio Romano und anderen nach Raffaels Tod gemalt wurde, in formaler Hinsicht mit der vorliegenden Zeichnung, zeigt sich, dass alle Abstände und Winkel verändert und die Umrisse verstärkt und vereinfacht wurden. Auch hinsichtlich der Positionierung gibt es einen Unterschied: Im Fresko ist das sterbende Pferd, dessen strömendes Blut verebbt, zu Boden gesunken, während es in der vorliegenden Studie in einem aufsteigenden Winkel erscheint. Dies ist nicht das Resultat einer Beschneidung des Blattes, denn die Kettenlinien des Papiers weichen nur um wenige Grade von der durch die Kanten vorgegebenen Senkrechten ab. Die Ausrichtung der Zeichnung war demzufolge beabsichtigt, doch wurde sie bei der endgültigen Anordnung revidiert. Am unteren Rand befindet sich eine schräge Linie in Form einer geglätteten Falte, die von etwa 25 mm links hinunter auf ungefähr 12 mm verläuft, wo sie sich mit der ausgerissenen Ecke unten rechts trifft. Nimmt man diese Falte als horizontale Grundlinie an, kommt das Pferd in einem Winkel zu liegen, der in etwa seiner finalen Position entspricht.

Aus Raffaels letzten zwei bis drei Lebensjahren haben sich relativ wenige Zeichnungen erhalten, doch befindet sich erfreulicherweise eine unter ihnen, die dem vorliegenden Werk außergewöhnlich nahesteht: Es handelt sich um die Rötelskizze von 1516/17 der Wiener Albertina, welche die beiden Reiter rechts in Raffaels Altarbild Lo Spasimo di Sicilia vorbereitet, das sich heute im Prado in Madrid befindet (Inv.-Nr. P000298). Legt man die beiden Zeichnungen nebeneinander, ist die ausgewogene Verteilung schraffierter und gewischter Passagen praktisch identisch; dies gilt auch für die Charakterisierung des rechten Pferdes, die Form seiner Augen und seine Kopfform; selbst das Zaumzeug ist vergleichbar. Doch während sich die Zeichnung der Albertina abgesehen von einer leichten Beschneidung am oberen Rand in perfektem Zustand befindet, hat das vorliegende Blatt etwas unter Farbverlust und Abrieb gelitten, sodass die Beschaffenheit des vorderen Schattens und des hervorspringenden Beines des Reiters nicht unmittelbar zur Geltung kommt; im Grunde ist sie deutlicher auf der Schwarzweiß-Fotografie von 1940 zu sehen, aus der hervorgeht, dass dieser Bereich flott ausgeführt und die rote Kreide sehr frei eingesetzt wurde. Raffael sah seine Aufgabe darin festzulegen, wo die eine Form endete und die andere begann: Genau zu wissen, was er tat, erforderte großes Können, und es gelang ihm ohne die Zuhilfenahme von Überschneidungen.

Der hier dargestellte Reiter, dessen Pferd unter ihm zu Sturz kommt, scheint in seiner Bedeutung unter Konstantins Gegnern gleich nach dem heidnischen Kaiser zu kommen. Konstantins Blick ist auf den ertrinkenden Maxentius gerichtet, der sich vergeblich an den Hals seines strauchelnden Pferdes klammert und seinen Bezwinger in ohnmächtiger Bösartigkeit anstarrt. Konstantins Kommandant weist jedoch auf den gestürzten Kavalleristen. Bei dem Offizier, der hier dem Tod ins Auge blickt, muss es sich um einen Akteur von historischer Bedeutung gehandelt haben, dem Raffael hier in der allgemeinen Szenerie der Niederlage ein individuelles Schicksal zugedacht haben mag. Seine Identität bleibt bis dato ein Rätsel, zumal sich in den Berichten über die Schlacht weder in der Kirchengeschichte noch in der Vita Constantini des Geschichtsschreibers Eusebius von Caesarea eine passende Persönlichkeit findet; doch zweifellos hatte Raffael Historiker und Theologen am päpstlichen Hof konsultiert, um herauszufinden, womit Eusebius nicht dienen konnte.

Auf der Rückseite von Blättern Raffaels tauchen bisweilen Zeichnungen anderer Künstler auf. Ein prominentes Beispiel ist eine eigenhändige Zeichnung Raffaels, entstanden um 1503, die verso eine um 1530 ausgeführte Kompositionsskizze Perino del Vagas zeigt (siehe P. Joannides, Raphael and His Age, Drawings from the Palais des Beaux-Arts, Lille, Ausstellungskatalog, Clevelan/Lille 2002/2003, Nr. 20, S. 98–101). Ein derartiger Zeitsprung ist jedoch extrem. In den meisten Fällen entstanden Zeichnungen auf der Rückseite – oder in sehr seltenen Fällen Hinzufügungen auf der Vorderseite – von anderer Hand bald nach oder zeitgleich mit den Zeichnungen Raffaels. So enthalten mehrere Blätter Raffaels Zeichnungen Giulio Romanos, insbesondere aus Phasen, wo die beiden Seite an Seite arbeiteten. Im vorliegenden Fall entstand Polidoros Zeichnung vermutlich nicht später als ein bis zwei Jahre nach der Vorderseite Raffaels, vielleicht sogar auch schon früher; es scheint wahrscheinlich, dass Polidoro nach Beendigung der Arbeiten in der Loggia 1518 als Mitarbeiter für die Sala di Costantino rekrutiert wurde, wo er leichten Zugang zu den Zeichnungen und Kartons Raffaels und seiner Mitarbeiter gehabt hätte.

Erstaunlicherweise hat man den Zeichnungen Polidoros auf diesem Blatt, die ganz charakteristisch für seinen Stil sind, bisher keine Beachtung geschenkt; betrachtet man sie jedoch unvoreingenommen, erweisen sie sich als höchst aufschlussreich. Links von Raffaels Gruppe auf der Vorderseite befindet sich eine stehende Figur in Rückenansicht, die diese leicht überlagert und schnell nach dem lebenden Modell skizziert wurde. Unter Polidoros Skizzen auf der Rückseite findet sich ein frontal gesehener und sich offenbar streckender Mann, der sich umwendet, um etwas zu betrachten; neben ihm befindet sich eine zarte architektonische Skizze, die unverkennbar das Kapitell eines Pfeilers darstellt. Beide sind leicht mit schwarzer Kreide skizziert. Mit roter Kreide hat Polidoro eine weitere, stärker ausgeprägte und sich aufstützende Figur dargestellt, die ebenfalls ein Geschehen zu beobachten scheint. Das letzte und aussagekräftigste Element ist die Salomonische Säule, ebenfalls in roter Kreide ausgeführt, die wie der sich abstützende Mann von rechts beleuchtet wird. Es ist diese Säule, welche die Handlungen der Figuren, die alle gleichsam als Zuschauer fungieren, miteinander verbindet und erklärt. In der Sala di Costantino finden sich nur in der Konstantinischen Schenkung – von rechts beleuchtet – Salomonische Säulen als unverkennbares Merkmal des alten Petersdoms, in dem die Schenkung stattgefunden haben soll, zu sehen im Hintergrund des Freskos. Der Vorder- und Mittelgrund der Schenkung wird von Zuschauern in unterschiedlichen Posen eingenommen. Es mag sein, dass Polidoro mit seinen Zeichnungen auf dem vorliegenden Blatt entweder Skizzen Giulio Romanos und/oder Pennis interpretiert hat, die diese in Vorbereitung der Schenkung ausgeführt hatten, oder – was wahrscheinlicher ist – dass er selbst eigene Ideen für die Schenkung einbrachte, zumal sich Polidoro gerade in der Zeit unmittelbar nach Raffaels Tod als der grandioseste Bildkompositeur unter den Nachfolgern des Meisters entpuppte.

Saleroom Notice:

Eine ausführlichere Fassung des Katalogeintrags wurde vom Herausgeber von Artibus et Historiae zur Veröffentlichung als Artikel in einer der nächsten Ausgaben in Auftrag gegeben.

Experte: Mark MacDonnell Mark MacDonnell
+43 1 515 60 403

oldmasters@dorotheum.com

25.10.2023 - 18:00

Erzielter Preis: **
EUR 338.000,-
Schätzwert:
EUR 400.000,- bis EUR 600.000,-

Raffaello Sanzio, gen. Raffael

[Saleroom Notice]

(Urbino 1483–1520 Rom)
Recto: Studie für die Schlacht an der Milvischen Brücke: ein Reiter und Kopf und Auge eines Pferdes,
bezeichnet auf der Montierung: par RAPHAEL,
rote Kreide und Feder auf Papier, 22 x 24 cm, gerahmt

Polidoro da Caravaggio
(Caravaggio um 1499 – um 1543 Messina)
Verso: Studien für die Konstantinische Schenkung(?): Salomonische Säule und sitzende männliche Figuren,
Rote Kreide und schwarze Kreide auf Papier, 22 x 24 cm, gerahmt

Provenienz:
vermutlich Privatsammlung, Frankreich, bis in die 1920er- oder 1930er-Jahre;
Iohan Quirijn van Regteren Altena (1899–1980), Amsterdam;
Weitergabe im Erbgang;
Auktion, Paris, Dessins anciens et du XIXe siècle incluant la Collection I. Q. van Regteren Altena. III. Ecoles Français et Italiens, 25. März 2015, Lot 7 (als Italienische Schule, 16. Jahrhundert);
dort erworben durch den jetzigen Besitzer

Ausgestellt:
Amsterdam, Rijksmuseum, Italiaanse tekeningen uit een Amsterdamse collectie, 24. April – 28. Juni 1970, Nr. 16 (als Polidoro da Caravaggio)

Literatur:
I. Q. van Regteren Altena, Rubens as a Draughtsman, in: The Burlington Magazine, Bd. 76, Nr. 447, Juni 1940, S. 199, Tafel II, A und B (als P. P. Rubens);
s. a., Italiaanse tekeningen uit een Amsterdamse collectie, Ausstellungskatalog, Amsterdam 1970, S. 13, Nr. 16, Abb. 9 (als Polidoro da Caravaggio);
P. Leone de Castris, Polidoro da Caravaggio. L’opera completa, Neapel 2001, S. 181, Abb. 204, 205, S. 467, Nr. D 4 (als Polidoro da Caravaggio)

Wir danken Professor Paul Joannides, der die Zuschreibungen der Zeichnungen auf beiden Seiten des vorliegenden Blattes bestätigt hat, für seine Hilfe bei der Katalogisierung des Lots.

Geschichte der Zeichnung

Das vorliegende Blatt wurde vermutlich in den späten 1920er- oder frühen 1930er-Jahren von dem Gelehrten und Sammler Iohan Quirijn van Regteren Altena erworben und stammt zweifellos aus einer (bis dato unbekannten) französischen Sammlung. 1940 publizierte der Sammler die beiden Seiten des Blattes im Burlington Magazine als Arbeiten Peter Paul Rubens’. Er bildete sie als kontrastreiche Schwarzweiß-Fotografien ab, was die Formen verunklärte und ihnen eine irreführende Schärfe verlieh. Obzwar angesichts der Qualität der Zeichnungen und der ihnen innewohnenden Energie nachvollziehbar, war diese Zuschreibung offensichtlich unrichtig und fand bei Rubensexperten keine Beachtung. 1970 nahm van Regteren Altena das Blatt in den Katalog der seiner Sammlung gewidmeten Ausstellung auf; er bildete (in schlechter Qualität) ausschließlich die Vorderseite ab und schrieb sie Polidoro da Caravaggio zu. Dabei stützte er sich auf das Urteil dreier herausragender Wissenschaftler – John Gere, Konrad Oberhuber und John Shearman –, jedoch ohne anzugeben, ob deren Einschätzungen auf Fotografien oder auf dem Studium des Originals beruhten.

Im Jahr 2001 wies Pierluigi Leone de Castris in seiner bedeutenden Monografie des Künstlers sowohl Recto als auch Verso den ersten der Wissenschaft bekannten Zeichnungen des Polidoro da Caravaggio zu, zog jedoch für die Abbildungen des beidseitig bezeichneten Blattes jene des Burlington Magazine heran, wobei er wohl keine Gelegenheit hatte, auch das Original zu prüfen (siehe Literatur). Als das Werk 2015 in der Auktion der Sammlung van Regteren Altenas zum Verkauf angeboten wurde, wurde die Zuschreibung an Polidoro zwar erwähnt, aber verworfen, und das Blatt allgemein – und unzureichend – als italienische Schule des 16. Jahrhunderts katalogisiert. Es wurde in dieser Auktion vom aktuellen Besitzer erworben, der allmählich zu dem Schluss kam, dass die Rückseite zwar ein Werk Polidoros war, die Vorderseite jedoch Raffael zugeschrieben werden konnte. Das Blatt wurde Professor Paul Joannides zur Kenntnis gebracht, der die Zuschreibung der Zeichnungen in roter Kreide auf der Vorderseite an Raffael akzeptiert und eine Analyse zu dem Blatt erstellt hat, deren Verwendung er uns gestattet hat.

Die Stanzen im Vatikan

Raffael begann 1508 im Vatikan zu arbeiten und war dort zwölf Jahre, bis zu seinem plötzlichen Tod im April 1520, aktiv. Seine dortige Tätigkeit galt in erster Linie einer Reihe von Fresken für die Stanze Vaticane, vier Säle, die heute zu den Vatikanischen Museen gehören und die damals die weitläufigen Gemächer für Papst Julius II. bildeten, der sie bis 1513 bewohnte. Danach setzte sein Nachfolger Leo X. mit der Ausstattung der Räumlichkeiten fort. Der letzte dieser Räume, die Sala di Costantino, wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1519 begonnen und diente päpstlichen Empfängen und der Abhaltung offizieller Feierlichkeiten.

Zwischen 1508 und 1514 war Raffael in erster Linie mit der Ausstattung der Stanza della Segnatura und der Stanza d’Eliodoro, beides Räume mit gewölbten Wänden, befasst, von denen zwei durch Fenster unterbrochen waren. Zwischen 1514 und 1517 arbeitete er mit Unterstützung seiner Gehilfen, aber auch mit Behinderungen konfrontiert, im dritten Raum, der Stanza dell’Incendio, deren Wände ebenfalls gewölbt waren und die unregelmäßige Unterbrechungen aufwiesen, was die Arbeit erschwerte. Die Ausführung der Stanza dell’Incendio fiel mit drei weiteren großen Projekten zusammen, deren Oberaufsicht ebenfalls Raffael oblag: der Freskierung der Sala dei Palafrenieri und der Logge sowie den aquarellierten Kartons für die Tapisserien der Sixtinischen Kapelle.

Die Freskenausstattung wurde zur Gänze von Raffaels Gehilfen ausgeführt, doch die Kartons für die Tapisserien sind größtenteils eigenhändig. Die Gestaltung der Sala dei Palafrenieri bestand aus illusionistischen Marmorstatuen der Apostel – eine Spezialität Raffaels –, während die Kartons für die Wandteppiche – große Kompositionen in feierlich-neomasaccesker Manier – mit der Sala dei Palafrenieri die strenge und eindrückliche Klarheit teilten. Sie boten jedoch relativ wenig Gelegenheit für abwechslungsreiche Handlungen und Emotionen und noch weniger die Möglichkeit einer romanisierenden Epik. Die Logge hingegen waren eine Einladung an Raffael, seiner Begabung als Geschichtenerzähler in 52 narrativen Fresken unterschiedlichster Sujets freien Lauf zu lassen, dies allerdings nur in unbefriedigend kleinem Maßstab.

Raffael muss also der Arbeit in der großen rechteckigen und relativ störungsfreien Sala di Costantino mit ihrer flachen Decke (für die er vermutlich Entwürfe anfertigte) und den drei durchgehenden Wänden erwartungsvoll entgegengeblickt haben.

Das Projekt bot ihm die Möglichkeit, einen historisch-dramatischen Zyklus zu gestalten, mit dem er seine bisherigen Errungenschaften weiterentwickeln und ausbauen konnte. Er würde es an Theatralik und humanistischem Fokus mit den Werken der Dichter und Historiker aufnehmen können, die er selbst im Parnass porträtiert hatte; was archäologische Akkuratesse betraf, würde er mit dem Triumph Caesars von Mantegna wetteifern können, einem von Raffaels Helden und Vorbildern, dem er nacheiferte.

Womöglich noch wichtiger mochte ihm erschienen sein, dass ihn seine Schlacht an der Milvischen Brücke, das größte und dynamischste der vier Fresken, das ganz den antiken Schlachtenreliefs geschuldet war, in die Lage versetzen würde, die verlorenen Schlachtenszenen seines einstigen Mentors Leonardo und seines älteren Zeitgenossen und Rivalen Michelangelo für die Sala del Gran Consiglio im Palazzo Vecchio in Florenz hinsichtlich Wirkkraft und anatomischer Erfindungsgabe zu übertreffen: Projekte, deren Ruhm, wie Vasari uns berichtet, Raffael zunächst in die Toskana gezogen hatten und die ihn nach wie vor inspirierten. Selbst in seiner Florentiner Zeit, der Periode seiner „lieblichen Madonnen“, schuf er Zeichnungen von Schlachten, die im Original oder als Kopien existierten – eine Faszination, die sich in Rom fortsetzte (siehe zum Beispiel die um 1507 entstandenen Zeichnungen von Schlachten im Ashmolean Museum, Oxford).

Die von Leonardo und Michelangelo gestalteten Schlachten waren höchst ambitioniert und einflussreich, doch so sehr ihre Entwürfe über die Bildinhalte hinausgingen, bezogen sich diese im Speziellen doch nur auf Episoden aus der Geschichte von Florenz und der Toskana: Cascina, ein militärisches Geplänkel mit Pisa des Jahres 1364, das historisch bedeutendere Anghiari, die Niederschlagung des Mailänder Expansionismus von 1440. Konstantins Sieg über Maxentius an der Milvischen Brücke war eine Schlacht von ganz anderer Größenordnung, ein welthistorisches Ereignis, das, auf den Punkt gebracht, für den Sturz des Heidentums und die Errichtung eines christlichen Reichs unter göttlicher Führung in Rom, der Hauptstadt der Welt, stand. Die Bühne betraten hier nicht unbekannte Söldnerführer, sondern ein Mann, der erster christlicher Kaiser werden sollte, und sein heidnischer Widerpart: die Repräsentanten von Himmel und Hölle gewissermaßen. Es konnte kaum ein bedeutsameres Bildthema geben. Die Schlacht, die Raffael konzipierte, deren Ausführung er jedoch nicht mehr erlebte, war eine seiner größten und einflussreichsten Errungenschaften, wie unter vielen anderen Rubens, Pietro da Cortona, Charles Le Brun und Eugène Delacroix bezeugen konnten.

Die Sala di Costantino

Für die Sala di Costantino plante Raffael vier Fresken mit Episoden aus dem Leben Konstantins. In der zeitlichen Abfolge sind dies: Die Erscheinung des Kreuzes auf der Ostwand, Die Schlacht an der Milvischen Brücke auf der Südwand, Die Taufe Konstantins auf der Westwand und Die Schenkung Roms (Konstantins [fiktive] Verleihung weltlicher Macht an das Papsttum) auf der Nordwand. Das größte und anspruchsvollste Fresko des Raumes war und ist die ungemein komplexe und vielfigurige Komposition der Schlacht an der Milvischen Brücke. In ihrer finalen gemalten Form ist sie etwa 7 Meter hoch und 18 Meter breit und umfasst zwischen 50 und 60 Männer und über ein Dutzend Pferde.

Ein derart ambitioniertes Unterfangen erforderte aufwendige Recherchen, wie Rüstung und Ausstattung wohl zur Zeit Konstantins ausgesehen haben mochten, um Raffaels archäologischen Ansprüchen Genüge zu tun. Es entstanden Dutzende vorbereitende Kompositions- und Figurenstudien, von denen nur eine Handvoll bekannt ist. Nicht alle diese Studienblätter stammen von Raffael selbst; einige der erhaltenen Figurenzeichnungen schuf sein engster Gehilfe und Mitarbeiter Giulio Romano, während die modelli für die Schlacht an der Milvischen Brücke und die Erscheinung des Kreuzes von Raffaels bodenständigerem Mitarbeiter Gianfrancesco Penni ausgeführt wurden. Raffael war sich bewusst, dass seine Arbeit im davor entstandenen Raum, der Stanza dell’Incendio, heftig kritisiert worden war. Seine Rivalen Michelangelo und Sebastiano del Piombo hatten seinen Ruf angekratzt, und er hätte wohl jede Anstrengung unternommen, um seinen Kritikern Paroli zu bieten. Man kann davon ausgehen, dass er bei der Planung des Saales ganz bei der Sache war und die Ausführung der Historienbilder genauestens überwachte (und womöglich sogar mitarbeitete).

Raffael verstarb im April 1520, vermutlich kurz nachdem Giulio Romano an den Enden der Süd- und Ostwand ein allegorisches Figurenpaar gemalt hatte, jedoch noch vor Beginn der gemalten Umsetzung der Schlacht an der Milvischen Brücke. Es ist das einzige der vier Fresken, das Raffaels Ideenfindung ohne Abweichungen folgt. Nach seinem Tod wurden die Arbeiten in der Sala di Costantino fortgesetzt, allen voran durch Giulio Romano, dem daran gelegen war, dem Zyklus seinen persönlichen Stempel aufzudrücken. Im Dezember 1521, nach Vollendung der Erscheinung des Kreuzes, bei der Giulio die Gelegenheit ergriff, eigene Vorstellungen umzusetzen, wurden die Arbeiten durch den Tod von Leo X. unterbrochen. Sie wurden erst Ende 1523 wieder aufgenommen, nachdem Leos Cousin Kardinal Giulio zu Papst Klemens VII. gewählt worden war. Erst in dieser zweiten Phase wurden Taufe und Schenkung gemalt. Die Hauptszenen wurden Mitte 1524 vollendet. Danach reiste Giulio Romano nach Mantua. Der Sockelbereich wurde vermutlich erst Ende des Jahres oder Anfang 1525 fertiggestellt.

Gianfrancesco Pennis großes modello für die Schlacht an der Milvischen Brücke, in dem das gesamte Fresko und die Aufteilung der aufeinander bezogenen Details angelegt sind, befindet sich im Louvre in Paris. Es entstand zweifellos noch zu Lebzeiten Raffaels und folgte seinen Vorstellungen überaus getreu: Höchstwahrscheinlich wurde es dem Papst zur Freigabe vorgelegt. Ein Fragment des finalen Kartons, das vermutlich unmittelbar vor Raffaels Tod entstand, wird in der Ambrosiana in Mailand aufbewahrt: Es wurde von Giulio Romano gezeichnet und unterscheidet sich minimal von den betreffenden Passagen im modello und im vollendeten Fresko.

Zu den Einzelfiguren im Fresko haben sich drei Aktstudien erhalten, alle ausgeführt in schwarzer Kreide. Sie scheinen nach dem modello entstanden zu sein, um die Körperhaltung betreffende Details zu präzisieren, doch noch vor dem Karton. Diese Zeichnungen, die allesamt Soldaten des Maxentius darstellen, entsprechen Figuren, die in der gemalten Schlacht von links nach rechts erscheinen: eine Studie Raffaels für einen heroischen Fußsoldaten im Louvre; ein stürzender Kavallerist von Giulio Romano in Vorbereitung eines im Fresko eine Rüstung tragenden Soldaten in der Devonshire Collection in Chatsworth; und schließlich eine Studie Raffaels zweier in den Tiber geworfener Soldaten bei dem Versuch, in ein Boot zu klettern, im Ashmolean Museum in Oxford. Die drei Studien drehen sich jeweils um den furchtlosen Widerstand gegen den Vorstoß Konstantins, eine kopfüber hingenommene Niederlage und den zum Scheitern verurteilten Versuch zu überleben; in diesem Sinn veranschaulichen sie – auch wenn dies unerheblich sein mag – den Verlauf der Schlacht. Zweifellos reihten sich viele heute verlorene Blätter zu ihnen, die bestimmte Bereiche des Freskos betrafen. Schwarze Kreide klärte – und vereinfachte bis zu einem gewissen Grad – die dem Fresko innewohnende skulpturale Anmutung der Schlacht an der Milvischen Brücke und half bei der ausgewogenen Verteilung des Helldunkels.

Die Zeichnung in roter Kreide auf der Vorderseite des vorliegenden Blattes, die ein stürzendes Pferd und seinen in der Falle sitzenden Reiter darstellt, der vergeblich versucht, sich vor dem coup de grace zu retten, den ihm ein Fußsoldat sogleich versetzen wird, kann nun den bisher aufgefundenen vorbereitenden Studienblättern hinzugefügt werden; sie lässt sich jedoch nicht der Gruppe schwarzer Kreidezeichnungen zuweisen und unterscheidet sich auch von ihrem Wesen her. Es handelt sich nicht um die gleichmäßig fokussierte Studie einer Einzelfigur – das Pferd ist ausdrucksstärker und genauer charakterisiert als sein Reiter –, sondern um eine im Bildzusammenhang entwickelte Skizze mit unterschiedlicher Emphase. Das Blatt ist in roter Kreide ausgeführt, was sowohl ein selektives Wischen als auch ein verlaufendes Modellieren und damit eine abwechslungsreichere Akzentuierung als Schwarz ebenso ermöglicht wie subtilere Verläufe als die Feder.

Die Modellierung variiert weithin und ist wirkungsvoll platziert: Vielsagend ist etwa das Relief des Pferdekopfes mit seinen erschrockenen Augen, während der Ausdruck des Reiters bloß angedeutet ist. Raffael hat die rote Kreide, die von Natur aus heller ist als Schwarz, womöglich auch deshalb für den stürzenden Kavalleristen gewählt, weil für diesen Bereich des Freskos ohnehin eine hellere Farbigkeit vorgesehen war, um eine besonders bedeutsame Gruppe ins Licht zu rücken. Wie wir von Studien für die Loggia der Psyche und die Stanza dell’Incendio wissen, hatte Raffael in dieser Schaffensphase für Skizzen oder vorbereitende Zeichnungen der Zwischenstufe eine Vorliebe für rote Kreide entwickelt, wobei das Medium allmählich Aufgaben übernahm, die davor der Feder zugefallen waren. In der Tat haben sich gewisse Elemente der vorliegenden Zeichnung, insbesondere der flott umrissene Reiter, etwas von Raffaels später Federtechnik bewahrt, wie man sie in Zeichnungen wie der Entführung der Helena aus der Zeit um 1517 der Devonshire Collection in Chatsworth (Inv.-Nr. 903) beobachten kann; auch die Verwendung kleiner Kreise zur Andeutung der Augen ist beiden Zeichnungen gemeinsam.

Frühere Autoren sind, ohne die Sache zu hinterfragen, davon ausgegangen, dass es sich bei der Gruppe der Vorderseite um eine Kopie des betreffenden Bereichs von Raffaels Bildfindung handelt, wobei man die ergänzenden Skizzen ignoriert hat. Doch abgesehen von der frischen, lebendigen und abwechslungsreichen Umsetzung, die bei Kopien äußerst selten anzutreffen ist und die Weite und Volumen sehr viel erfolgreicher vermittelt als das modello, unterscheidet sich die Gruppe deutlich sowohl von Pennis modello als auch vom Fresko selbst. Sie weicht insofern vom modello ab, als der Reiter hier ein anderes Gewand trägt und seine Rechte das Schwert in einem anderen Winkel hält; das linke Vorderbein wird im modello von einer anderen Form überlappt, hier jedoch nicht. Der Winkel des Kopfes von Konstantins Schlachtross ist in der Nebenskizze spitzer; die Studie des Auges ist detailreich und bestimmt. Tatsächlich scheint die Blickkette der Pferde als besonders ausdrucksstarkes Stilmittel des Freskos in dieser Zeichnung ihren Ausgang genommen zu haben. Eine solche auf die Darstellung von Augen gerichtete Aufmerksamkeit, wenn diese auch selten derart isoliert erscheinen wie hier, ist typisch für Raffaels dramatische Szenen und findet sich in mehreren seiner vorbereitenden Zeichnungen, beispielsweise in seiner Studie einer knienden Dienerin von etwa 1518 für die Loggia der Psyche, die sich heute in der Scottish National Gallery in Edinburgh (Inv.-Nr. D5154) befindet.

Andererseits ist nicht schwer nachzuvollziehen, warum man glaubte, die Zeichnung wäre auf das Fresko gefolgt, zumal sie doch nahe an das herankommt, was gemalt wurde. Die drei zarten Linien oben rechts deuten die Brücke an und bestimmen die Position des gestürzten Kavalleristen im Bild. Der Kontext wird jedoch nur angedeutet und nicht beschrieben, wie es bei einer Kopie der Fall wäre. Es gibt zahlreiche Unterschiede zur gemalten Gruppe, die zumeist klein, aber dennoch von Bedeutung sind. Das Kostüm des Reiters im Fresko unterscheidet sich gegenüber der vorliegenden Studie: In der gemalten Darstellung ist der hintere Arm nackt und der vordere von der Rüstung bedeckt, während auf der Zeichnung beide Arme von einem leichten Gewand umhüllt scheinen, wenn dieses auch schwer auszumachen ist. Die in der Brust des sterbenden Pferdes steckende Speerspitze als höchst dramatisches Element des Freskos fehlt auf der vorliegenden Zeichnung. Die Konturen des Brustkorbs des Pferdes wurden im Fresko verändert, was auch für die Formgebung von Kopf und Mähne gilt. Auf der Zeichnung findet sich kein Hinweis auf den Soldaten mit erhobenem Dolch, der im Fresko den Kopf des Reiters hinunterdrückt, um ihn zu töten: Man möchte meinen, dass eine Kopie dies beinhaltet hätte.

Vergleicht man das Fresko, das nicht vom Meister, sondern von Giulio Romano und anderen nach Raffaels Tod gemalt wurde, in formaler Hinsicht mit der vorliegenden Zeichnung, zeigt sich, dass alle Abstände und Winkel verändert und die Umrisse verstärkt und vereinfacht wurden. Auch hinsichtlich der Positionierung gibt es einen Unterschied: Im Fresko ist das sterbende Pferd, dessen strömendes Blut verebbt, zu Boden gesunken, während es in der vorliegenden Studie in einem aufsteigenden Winkel erscheint. Dies ist nicht das Resultat einer Beschneidung des Blattes, denn die Kettenlinien des Papiers weichen nur um wenige Grade von der durch die Kanten vorgegebenen Senkrechten ab. Die Ausrichtung der Zeichnung war demzufolge beabsichtigt, doch wurde sie bei der endgültigen Anordnung revidiert. Am unteren Rand befindet sich eine schräge Linie in Form einer geglätteten Falte, die von etwa 25 mm links hinunter auf ungefähr 12 mm verläuft, wo sie sich mit der ausgerissenen Ecke unten rechts trifft. Nimmt man diese Falte als horizontale Grundlinie an, kommt das Pferd in einem Winkel zu liegen, der in etwa seiner finalen Position entspricht.

Aus Raffaels letzten zwei bis drei Lebensjahren haben sich relativ wenige Zeichnungen erhalten, doch befindet sich erfreulicherweise eine unter ihnen, die dem vorliegenden Werk außergewöhnlich nahesteht: Es handelt sich um die Rötelskizze von 1516/17 der Wiener Albertina, welche die beiden Reiter rechts in Raffaels Altarbild Lo Spasimo di Sicilia vorbereitet, das sich heute im Prado in Madrid befindet (Inv.-Nr. P000298). Legt man die beiden Zeichnungen nebeneinander, ist die ausgewogene Verteilung schraffierter und gewischter Passagen praktisch identisch; dies gilt auch für die Charakterisierung des rechten Pferdes, die Form seiner Augen und seine Kopfform; selbst das Zaumzeug ist vergleichbar. Doch während sich die Zeichnung der Albertina abgesehen von einer leichten Beschneidung am oberen Rand in perfektem Zustand befindet, hat das vorliegende Blatt etwas unter Farbverlust und Abrieb gelitten, sodass die Beschaffenheit des vorderen Schattens und des hervorspringenden Beines des Reiters nicht unmittelbar zur Geltung kommt; im Grunde ist sie deutlicher auf der Schwarzweiß-Fotografie von 1940 zu sehen, aus der hervorgeht, dass dieser Bereich flott ausgeführt und die rote Kreide sehr frei eingesetzt wurde. Raffael sah seine Aufgabe darin festzulegen, wo die eine Form endete und die andere begann: Genau zu wissen, was er tat, erforderte großes Können, und es gelang ihm ohne die Zuhilfenahme von Überschneidungen.

Der hier dargestellte Reiter, dessen Pferd unter ihm zu Sturz kommt, scheint in seiner Bedeutung unter Konstantins Gegnern gleich nach dem heidnischen Kaiser zu kommen. Konstantins Blick ist auf den ertrinkenden Maxentius gerichtet, der sich vergeblich an den Hals seines strauchelnden Pferdes klammert und seinen Bezwinger in ohnmächtiger Bösartigkeit anstarrt. Konstantins Kommandant weist jedoch auf den gestürzten Kavalleristen. Bei dem Offizier, der hier dem Tod ins Auge blickt, muss es sich um einen Akteur von historischer Bedeutung gehandelt haben, dem Raffael hier in der allgemeinen Szenerie der Niederlage ein individuelles Schicksal zugedacht haben mag. Seine Identität bleibt bis dato ein Rätsel, zumal sich in den Berichten über die Schlacht weder in der Kirchengeschichte noch in der Vita Constantini des Geschichtsschreibers Eusebius von Caesarea eine passende Persönlichkeit findet; doch zweifellos hatte Raffael Historiker und Theologen am päpstlichen Hof konsultiert, um herauszufinden, womit Eusebius nicht dienen konnte.

Auf der Rückseite von Blättern Raffaels tauchen bisweilen Zeichnungen anderer Künstler auf. Ein prominentes Beispiel ist eine eigenhändige Zeichnung Raffaels, entstanden um 1503, die verso eine um 1530 ausgeführte Kompositionsskizze Perino del Vagas zeigt (siehe P. Joannides, Raphael and His Age, Drawings from the Palais des Beaux-Arts, Lille, Ausstellungskatalog, Clevelan/Lille 2002/2003, Nr. 20, S. 98–101). Ein derartiger Zeitsprung ist jedoch extrem. In den meisten Fällen entstanden Zeichnungen auf der Rückseite – oder in sehr seltenen Fällen Hinzufügungen auf der Vorderseite – von anderer Hand bald nach oder zeitgleich mit den Zeichnungen Raffaels. So enthalten mehrere Blätter Raffaels Zeichnungen Giulio Romanos, insbesondere aus Phasen, wo die beiden Seite an Seite arbeiteten. Im vorliegenden Fall entstand Polidoros Zeichnung vermutlich nicht später als ein bis zwei Jahre nach der Vorderseite Raffaels, vielleicht sogar auch schon früher; es scheint wahrscheinlich, dass Polidoro nach Beendigung der Arbeiten in der Loggia 1518 als Mitarbeiter für die Sala di Costantino rekrutiert wurde, wo er leichten Zugang zu den Zeichnungen und Kartons Raffaels und seiner Mitarbeiter gehabt hätte.

Erstaunlicherweise hat man den Zeichnungen Polidoros auf diesem Blatt, die ganz charakteristisch für seinen Stil sind, bisher keine Beachtung geschenkt; betrachtet man sie jedoch unvoreingenommen, erweisen sie sich als höchst aufschlussreich. Links von Raffaels Gruppe auf der Vorderseite befindet sich eine stehende Figur in Rückenansicht, die diese leicht überlagert und schnell nach dem lebenden Modell skizziert wurde. Unter Polidoros Skizzen auf der Rückseite findet sich ein frontal gesehener und sich offenbar streckender Mann, der sich umwendet, um etwas zu betrachten; neben ihm befindet sich eine zarte architektonische Skizze, die unverkennbar das Kapitell eines Pfeilers darstellt. Beide sind leicht mit schwarzer Kreide skizziert. Mit roter Kreide hat Polidoro eine weitere, stärker ausgeprägte und sich aufstützende Figur dargestellt, die ebenfalls ein Geschehen zu beobachten scheint. Das letzte und aussagekräftigste Element ist die Salomonische Säule, ebenfalls in roter Kreide ausgeführt, die wie der sich abstützende Mann von rechts beleuchtet wird. Es ist diese Säule, welche die Handlungen der Figuren, die alle gleichsam als Zuschauer fungieren, miteinander verbindet und erklärt. In der Sala di Costantino finden sich nur in der Konstantinischen Schenkung – von rechts beleuchtet – Salomonische Säulen als unverkennbares Merkmal des alten Petersdoms, in dem die Schenkung stattgefunden haben soll, zu sehen im Hintergrund des Freskos. Der Vorder- und Mittelgrund der Schenkung wird von Zuschauern in unterschiedlichen Posen eingenommen. Es mag sein, dass Polidoro mit seinen Zeichnungen auf dem vorliegenden Blatt entweder Skizzen Giulio Romanos und/oder Pennis interpretiert hat, die diese in Vorbereitung der Schenkung ausgeführt hatten, oder – was wahrscheinlicher ist – dass er selbst eigene Ideen für die Schenkung einbrachte, zumal sich Polidoro gerade in der Zeit unmittelbar nach Raffaels Tod als der grandioseste Bildkompositeur unter den Nachfolgern des Meisters entpuppte.

Saleroom Notice:

Eine ausführlichere Fassung des Katalogeintrags wurde vom Herausgeber von Artibus et Historiae zur Veröffentlichung als Artikel in einer der nächsten Ausgaben in Auftrag gegeben.

Experte: Mark MacDonnell Mark MacDonnell
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Auktion: Alte Meister
Auktionstyp: Saalauktion mit Live Bidding
Datum: 25.10.2023 - 18:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 14.10. - 25.10.2023


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