Lot Nr. 44


Giovanni Francesco Barbieri, gen. Il Guercino


Giovanni Francesco Barbieri, gen. Il Guercino - Alte Meister

(Cento 1591-1666 Bologna)
Der heilige Franziskus empfängt die Wundmale,
Öl auf Leinwand, 113 x 94 cm, gerahmt

Wir danken Nicholas Turner, der die Zuschreibung nach Prüfung des vorliegenden Gemäldes im Original bestätigt hat, für seine Hilfe bei der Katalogisierung.

Nach Turners Dafürhalten handelt es sich bei diesem bis dato unbekannten Gemälde Guercinos um ein großformatiges modello für sein Altarbild Der heilige Franziskus empfängt die Wundmale, Öl auf Leinwand, 264 x 176 cm (siehe N. Turner, The Paintings of Guercino. A Revised and Expanded Catalogue raisonné, Rom 2017, Nr. 196). Dieses entstand 1633 für den Hochaltar der Kirche San Francesco in der Gemeinde San Giovanni in Persiceto in Bologna und befindet sich heute in San Giovanni Battista in Campello Monti, einer Kirche in einem kleinen Dorf in den Bergen des Piemont (siehe Abb. 1). Das Altarbild wurde im Ausstellungskatalog Guercino: Il „San Francesco“ ritrovato, hrsg. von F. Gonzales und R. Vitiello, Novara, Palazzo dei Vescovi, und San Giovanni in Persiceto, Museo d’Arte Sacra, 2006/2007, besprochen.

Kleine kompositorische Veränderungen zwischen den beiden Leinwänden sowie eine Reihe von Unterschieden in Details machen deutlich, dass das vorliegende modello dem Altarbild zweifellos vorausging. Zahlreiche Anpassungen zeugen von Guercinos stetem Bemühen, seine Ideen selbst in einem solch späten Ausführungsstadium noch zu vervollkommnen. Eine der maßgeblicheren kompositorischen Veränderungen, die zwischen diesen beiden Phasen der Bildfindung vorgenommenen wurden, betrifft die Darstellung des Oberkörpers des Heiligen in dem ihn umgebenden Raum. Auf dem vorliegenden Gemälde befinden sich zwischen den ausgestreckten Armen des Heiligen und dem Hintergrund zwei Streifen blauen Himmels, die hier deutlich breiter sind als deren wolkenreichere Entsprechungen auf dem Altarbild. Pentimenti an der oberen Kante beider Ärmel im vorliegenden modello weisen darauf hin, dass die Arme ursprünglich weiter oben ansetzen sollten. Diese breiten Bänder wolkenlosen Himmels zwischen den Armen des Heiligen und den Felsen dahinter erwecken womöglich beabsichtigt den Eindruck, der Körper des Heiligen würde sich aus seinem irdischen Kontext lösen und sanft nach oben steigen. Dieser Eindruck wurde im Altarbild korrigiert, wo die Streifen schmäler sind und der zumeist bewölkte Himmel die Gestalt wieder zur Erde zurückzuholen und sie behaglich im engen Tal des Hintergrunds zu verankern scheint.

In der Phase des Übergangs vom modello zum fertigen Altarbild lassen sich weitere kleinere Anpassungen beobachten, welche ebenfalls darauf verweisen, dass das modello im Schaffensprozess voranging. Dem anspruchsvollen Auge mag die zwischen dem Felsen im Vordergrund und dem Erdboden gezogene Linie zu gerade, zu menschengemacht, erscheinen, trotz der beiden Steine, die davor liegen. Auf dem Altarbild wurde diesem Eindruck durch eine leichte Ein- und Ausbuchtung an der Unterseite des Felsens entgegengewirkt, was diesem ein natürlicheres Erscheinungsbild verleiht. Die beiden Steine wurden beibehalten, obgleich sie in ihrer Größe verändert wurden und weiter vom Felsen weg zu liegen gekommen sind.

Weitere Unterschiede in Details zwischen den beiden Leinwänden lassen sich in der verhältnismäßig größeren Darstellung auf dem Altarbild von Bruder Leo, dem Begleiter des heiligen Franziskus, erkennen, der unbequem gegen einen Felsen gelehnt im Hintergrund schläft. Andere Diskrepanzen betreffen das Format der Komposition: Aus dem Fehlen der Bänder des Himmels und des Vordergrunds am oberen und unteren Rand des modello erklärt sich die gegenüber dem modello höhere Komposition des Altarbilds. Guercino mag der Auffassung gewesen sein, diese beiden neutralen Passagen während der Arbeit am Altarbild improvisieren zu können. In diesem Stadium mag die Komposition aber ebenso gut auch noch weniger hoch intendiert gewesen sein. Was dem modello an Höhe fehlt, gewinnt es in der Breite, zumal sich seine Komposition deutlich nach links und rechts erstreckt, um mehr Raum vor dem schlafenden Bruder Leo (links) und hinter dem knienden hl. Franziskus (rechts) zu schaffen. Es mag nie beabsichtigt gewesen sein, der niedrigeren und breiteren Komposition des modello dieselbe Höhe zu geben wie dem Altarbild, was vielleicht darauf hinweist, dass in einer früheren Phase des Bildfindungsprozesses überhaupt ein anderes Format in Erwägung gezogen wurde.

Bis vor Kurzem ging man allgemein davon aus, dass Guercino sich auf seine außerordentlichen bildnerischen Fähigkeiten verließ und mit den Vorzeichnungen an seiner Seite direkt auf der Leinwand arbeitete - was heißen will, dass er auch bei größeren Aufträgen keine Zeit mit dem Malen von bozzetti oder großformatigen modelli als Vorschau für anspruchsvolle Kunden verschwendete. In jüngerer Zeit ist man auf eine Handvoll bozzetti gestoßen, in denen der Künstler an der Komposition, Lichtführung und Farbgebung für ein bestimmtes Werk zuvor in Öl auf Leinwand experimentiert. Dieser Praxis bediente sich Guercino entweder, wenn der Auftraggeber einen stattlichen Geldbetrag für ein Bild bezahlte, oder für eigene Zwecke, da ihm der Prozess half, seine Vorstellungen herauszuarbeiten. Zu Guercinos erhaltenen bozzetti - schnell ausgeführten kleinformatigen Skizzen in Öl auf Leinwand - zählt zum einen sein um 1618 entstandener Sitzender und in einem Buch lesender heiliger Hieronymus in einer Landschaft in der Graf Harrach’schen Familiensammlung, Schloss Rohrau, Niederösterreich (siehe N. Turner 2017, Nr. 64), mit dem der Künstler eine erste Idee für seinen Heiligen Hieronymus beim Versiegeln eines Briefs festhielt (von dem zwei Fassungen bekannt sind: eine in der Galleria Nazionale d’Arte Antica, Palazzo Barberini, Rom, die andere, bald danach ausgeführt, in einer römischen Privatsammlung; siehe Turner 2017, Nr. 65, 66); zum anderen das Werk Christus erscheint seiner Mutter, das am 18. Oktober 2017 im Dorotheum als Lot 83 versteigert wurde: die vorbereitende Studie mit kleinen Abweichungen für sein großes, um 1628-1630 gemaltes Altarbild des Themas in der Pinacoteca Civica, Cento (siehe Turner 2017, Nr. 161).

Da das vorliegende Gemälde Der heilige Franziskus empfängt die Wundmale ungefähr ein Viertel der Fläche des gleichnamigen Altarbildes in Campello Monti ausmacht (dessen Ausmaße durch die Hinzufügung von Leinwandstreifen unten und links leicht verändert wurden), mag die Vergrößerung der Komposition auf dem einfachen Verhältnis 1:4 beruhen. Die diesbezügliche genaue Vorgangsweise ist ein weiteres Mysterium in Guercinos außergewöhnlicher und höchst effizienter Malpraxis.

23.10.2018 - 18:00

Erzielter Preis: **
EUR 62.500,-
Schätzwert:
EUR 50.000,- bis EUR 70.000,-

Giovanni Francesco Barbieri, gen. Il Guercino


(Cento 1591-1666 Bologna)
Der heilige Franziskus empfängt die Wundmale,
Öl auf Leinwand, 113 x 94 cm, gerahmt

Wir danken Nicholas Turner, der die Zuschreibung nach Prüfung des vorliegenden Gemäldes im Original bestätigt hat, für seine Hilfe bei der Katalogisierung.

Nach Turners Dafürhalten handelt es sich bei diesem bis dato unbekannten Gemälde Guercinos um ein großformatiges modello für sein Altarbild Der heilige Franziskus empfängt die Wundmale, Öl auf Leinwand, 264 x 176 cm (siehe N. Turner, The Paintings of Guercino. A Revised and Expanded Catalogue raisonné, Rom 2017, Nr. 196). Dieses entstand 1633 für den Hochaltar der Kirche San Francesco in der Gemeinde San Giovanni in Persiceto in Bologna und befindet sich heute in San Giovanni Battista in Campello Monti, einer Kirche in einem kleinen Dorf in den Bergen des Piemont (siehe Abb. 1). Das Altarbild wurde im Ausstellungskatalog Guercino: Il „San Francesco“ ritrovato, hrsg. von F. Gonzales und R. Vitiello, Novara, Palazzo dei Vescovi, und San Giovanni in Persiceto, Museo d’Arte Sacra, 2006/2007, besprochen.

Kleine kompositorische Veränderungen zwischen den beiden Leinwänden sowie eine Reihe von Unterschieden in Details machen deutlich, dass das vorliegende modello dem Altarbild zweifellos vorausging. Zahlreiche Anpassungen zeugen von Guercinos stetem Bemühen, seine Ideen selbst in einem solch späten Ausführungsstadium noch zu vervollkommnen. Eine der maßgeblicheren kompositorischen Veränderungen, die zwischen diesen beiden Phasen der Bildfindung vorgenommenen wurden, betrifft die Darstellung des Oberkörpers des Heiligen in dem ihn umgebenden Raum. Auf dem vorliegenden Gemälde befinden sich zwischen den ausgestreckten Armen des Heiligen und dem Hintergrund zwei Streifen blauen Himmels, die hier deutlich breiter sind als deren wolkenreichere Entsprechungen auf dem Altarbild. Pentimenti an der oberen Kante beider Ärmel im vorliegenden modello weisen darauf hin, dass die Arme ursprünglich weiter oben ansetzen sollten. Diese breiten Bänder wolkenlosen Himmels zwischen den Armen des Heiligen und den Felsen dahinter erwecken womöglich beabsichtigt den Eindruck, der Körper des Heiligen würde sich aus seinem irdischen Kontext lösen und sanft nach oben steigen. Dieser Eindruck wurde im Altarbild korrigiert, wo die Streifen schmäler sind und der zumeist bewölkte Himmel die Gestalt wieder zur Erde zurückzuholen und sie behaglich im engen Tal des Hintergrunds zu verankern scheint.

In der Phase des Übergangs vom modello zum fertigen Altarbild lassen sich weitere kleinere Anpassungen beobachten, welche ebenfalls darauf verweisen, dass das modello im Schaffensprozess voranging. Dem anspruchsvollen Auge mag die zwischen dem Felsen im Vordergrund und dem Erdboden gezogene Linie zu gerade, zu menschengemacht, erscheinen, trotz der beiden Steine, die davor liegen. Auf dem Altarbild wurde diesem Eindruck durch eine leichte Ein- und Ausbuchtung an der Unterseite des Felsens entgegengewirkt, was diesem ein natürlicheres Erscheinungsbild verleiht. Die beiden Steine wurden beibehalten, obgleich sie in ihrer Größe verändert wurden und weiter vom Felsen weg zu liegen gekommen sind.

Weitere Unterschiede in Details zwischen den beiden Leinwänden lassen sich in der verhältnismäßig größeren Darstellung auf dem Altarbild von Bruder Leo, dem Begleiter des heiligen Franziskus, erkennen, der unbequem gegen einen Felsen gelehnt im Hintergrund schläft. Andere Diskrepanzen betreffen das Format der Komposition: Aus dem Fehlen der Bänder des Himmels und des Vordergrunds am oberen und unteren Rand des modello erklärt sich die gegenüber dem modello höhere Komposition des Altarbilds. Guercino mag der Auffassung gewesen sein, diese beiden neutralen Passagen während der Arbeit am Altarbild improvisieren zu können. In diesem Stadium mag die Komposition aber ebenso gut auch noch weniger hoch intendiert gewesen sein. Was dem modello an Höhe fehlt, gewinnt es in der Breite, zumal sich seine Komposition deutlich nach links und rechts erstreckt, um mehr Raum vor dem schlafenden Bruder Leo (links) und hinter dem knienden hl. Franziskus (rechts) zu schaffen. Es mag nie beabsichtigt gewesen sein, der niedrigeren und breiteren Komposition des modello dieselbe Höhe zu geben wie dem Altarbild, was vielleicht darauf hinweist, dass in einer früheren Phase des Bildfindungsprozesses überhaupt ein anderes Format in Erwägung gezogen wurde.

Bis vor Kurzem ging man allgemein davon aus, dass Guercino sich auf seine außerordentlichen bildnerischen Fähigkeiten verließ und mit den Vorzeichnungen an seiner Seite direkt auf der Leinwand arbeitete - was heißen will, dass er auch bei größeren Aufträgen keine Zeit mit dem Malen von bozzetti oder großformatigen modelli als Vorschau für anspruchsvolle Kunden verschwendete. In jüngerer Zeit ist man auf eine Handvoll bozzetti gestoßen, in denen der Künstler an der Komposition, Lichtführung und Farbgebung für ein bestimmtes Werk zuvor in Öl auf Leinwand experimentiert. Dieser Praxis bediente sich Guercino entweder, wenn der Auftraggeber einen stattlichen Geldbetrag für ein Bild bezahlte, oder für eigene Zwecke, da ihm der Prozess half, seine Vorstellungen herauszuarbeiten. Zu Guercinos erhaltenen bozzetti - schnell ausgeführten kleinformatigen Skizzen in Öl auf Leinwand - zählt zum einen sein um 1618 entstandener Sitzender und in einem Buch lesender heiliger Hieronymus in einer Landschaft in der Graf Harrach’schen Familiensammlung, Schloss Rohrau, Niederösterreich (siehe N. Turner 2017, Nr. 64), mit dem der Künstler eine erste Idee für seinen Heiligen Hieronymus beim Versiegeln eines Briefs festhielt (von dem zwei Fassungen bekannt sind: eine in der Galleria Nazionale d’Arte Antica, Palazzo Barberini, Rom, die andere, bald danach ausgeführt, in einer römischen Privatsammlung; siehe Turner 2017, Nr. 65, 66); zum anderen das Werk Christus erscheint seiner Mutter, das am 18. Oktober 2017 im Dorotheum als Lot 83 versteigert wurde: die vorbereitende Studie mit kleinen Abweichungen für sein großes, um 1628-1630 gemaltes Altarbild des Themas in der Pinacoteca Civica, Cento (siehe Turner 2017, Nr. 161).

Da das vorliegende Gemälde Der heilige Franziskus empfängt die Wundmale ungefähr ein Viertel der Fläche des gleichnamigen Altarbildes in Campello Monti ausmacht (dessen Ausmaße durch die Hinzufügung von Leinwandstreifen unten und links leicht verändert wurden), mag die Vergrößerung der Komposition auf dem einfachen Verhältnis 1:4 beruhen. Die diesbezügliche genaue Vorgangsweise ist ein weiteres Mysterium in Guercinos außergewöhnlicher und höchst effizienter Malpraxis.


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
old.masters@dorotheum.at

+43 1 515 60 403
Auktion: Alte Meister
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 23.10.2018 - 18:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 13.10. - 23.10.2018


** Kaufpreis inkl. Käufergebühr und Mehrwertsteuer

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