Lot Nr. 267


Friedensreich Hundertwasser*


(Wien 1928–2000 Pazifischer Ozean, an Bord d. Queen Elizabeth II.)
„Bäume in Grau“, 1950, unleserlich signiert, Aquarell und Kohle auf Papier, 61,5 x 43 cm, gerahmt

Auf der Rückseite eine Bleistiftzeichnung (Porträt) wahrscheinlich von Huntertwasser.

Andrea Fürst und Joram Harel (Hundertwasser-Archiv) haben das Werk im April 2024 gesehen.

Abgebildet und verzeichnet:
Andrea Fürst, Hundertwasser 1928-2000, Werkverzeichnis, Band II, Taschen 2002, Nr. 93

Publiziert im Ausstellungskatalog:
Hundertwasser, Kestner-Gesellschaft, Hannover, 1964, S. 104

Provenienz:
Privatsammlung, Wien

Leihrahmen

Liebe Freunde,

heute ist der 12. Mai 1982. Ich bin in Neuseeland.
Es ist jetzt schon ziemlich kalt hier, denn Mai ist ungefähr, was in Europa November ist. Es ist jetzt 10 Uhr 15 abends, in Wien ist es eine Viertelstunde nach Mittag. Es ist hier alles verkehrt.
Hier sieht man das Kreuz des Südens, die Wärme kommt aus dem Norden, die Kälte kommt aus dem Süden. Ihr werdet Euch sicher wundern, warum ich so lange weg bin, aber das hat hauptsächlich den Grund darin, daß ich nicht glaube, daß man an der Akademie etwas lernen kann. Nur die Schwachen gehen auf die Akademie, nur die Schwachen glauben, daß sie Kunst studieren können, daß sie Kunst lernen können. Entweder hat man das in sich wie eine Erleuchtung, die einem plötzlich kommt, oder man sucht und sucht und sucht und findet es meistens nicht. Entweder besitzt man die Gaben, die man bekommen hat, schon als Kind, seit seiner Geburt, oder man hat sie nicht. Hat man aber diese Gaben, so läuft man die größte Gefahr, in der Akademie oder in jeder Schule oder in jedem Zusammensein mit anderen Menschen dieses kostbarste Gut, das man besitzt, nämlich sein eigenes ICH, zu verlieren. Hat man aber sein eigenes ICH nicht gefunden oder es verloren und will es wiederfinden, so ist die Akademie der allerschlechteste Ort.
Denn dort ist man Einflüssen ausgesetzt, die einem nicht ent-sprechen, und es besteht die größte Gefahr, daß man irgend etwas adoptiert und dann sozusagen als sein Selbst erkennt, daß man sich in dem Wissen und dem Tun anderer Leute erkennt, daß man sich identifiziert mit etwas, das man selber nicht ist, mit etwas, das man gerne sein möchte, aber nicht ist, und dann leidet man sein ganzes Leben lang darunter. Das ist so, wie wenn man sich eine falsche Haut umgebunden hat oder wenn man Kleider anzieht, die einem nicht passen, und man sozusagen in diese Kleider hineinwachsen will!

Deswegen habe ich zu Beginn, wie Ihr Euch erinnert, gesagt, jeder soll doch seine eigenen Kinderzeichnungen herbringen.
Jeder soll dort beginnen, wo er noch er selbst war, bevor er zugeschüttet wurde, bevor er entfremdet wurde durch das Elternhaus, durch das Erziehungssystem, durch die Schule, durch die Gepflogenheiten unserer Zivilisation. Denn nur vom Ursprung aus kann man aufbauen. Das ist die einzige feste, sichere, unverrückbare Basis, der eigene Ursprung. Ganz gleich, wie diese Kinderzeichnungen ausgesehen haben…..

….Das nächste ist: Warum ich Bäume in die Klassen hineingestellt habe? Es ist ganz klar: Kunst und Natur haben sehr viel miteinander zu tun. Kunst ist die Brücke zwischen Mensch und Natur.
Kunst ist nicht die Brücke zwischen den Menschen. Was Kunst ist, muß sich jeder selbst aushandeln im Zwiegespräch mit der Natur. Der Mensch kann nicht kreativ sein, so wie die Schöpfung kreativ war, d.h. so wie Gott Bäume schafft, Natur schafft, Pflanzen schafft, Blumen hervorbringt, Welten hervorbringt, die dann durch sich selbst weiterexistieren und aufgrund einer unglaublichen Mannigfaltigkeit ihre Daseinsberechtigung haben, ein Räderwerk bilden, das ineinandergreift: Das kann der Mensch nicht, so sehr er sich auch intellektuell strapaziert. Im Gegenteil, je mehr er sich intellektuell strapaziert, um so weniger kommt er vorwärts. Der Mensch kommt nur dann vorwärts, wenn er neben seinem Intellekt andere Dinge wirken läßt. Der Intellekt soll ihn nur zur Selbstbeherrschung veranlassen, aber nicht zu Hochmütigkeit gegenüber der Natur….

Hundertwassers
an die Studenten der Meisterschule der Akademie der bildenden Künste in Wien vom Mai 1982

Expertin: Mag. Elke Königseder Mag. Elke Königseder
+43-1-515 60-358

elke.koenigseder@dorotheum.at

23.05.2024 - 18:00

Schätzwert:
EUR 50.000,- bis EUR 70.000,-

Friedensreich Hundertwasser*


(Wien 1928–2000 Pazifischer Ozean, an Bord d. Queen Elizabeth II.)
„Bäume in Grau“, 1950, unleserlich signiert, Aquarell und Kohle auf Papier, 61,5 x 43 cm, gerahmt

Auf der Rückseite eine Bleistiftzeichnung (Porträt) wahrscheinlich von Huntertwasser.

Andrea Fürst und Joram Harel (Hundertwasser-Archiv) haben das Werk im April 2024 gesehen.

Abgebildet und verzeichnet:
Andrea Fürst, Hundertwasser 1928-2000, Werkverzeichnis, Band II, Taschen 2002, Nr. 93

Publiziert im Ausstellungskatalog:
Hundertwasser, Kestner-Gesellschaft, Hannover, 1964, S. 104

Provenienz:
Privatsammlung, Wien

Leihrahmen

Liebe Freunde,

heute ist der 12. Mai 1982. Ich bin in Neuseeland.
Es ist jetzt schon ziemlich kalt hier, denn Mai ist ungefähr, was in Europa November ist. Es ist jetzt 10 Uhr 15 abends, in Wien ist es eine Viertelstunde nach Mittag. Es ist hier alles verkehrt.
Hier sieht man das Kreuz des Südens, die Wärme kommt aus dem Norden, die Kälte kommt aus dem Süden. Ihr werdet Euch sicher wundern, warum ich so lange weg bin, aber das hat hauptsächlich den Grund darin, daß ich nicht glaube, daß man an der Akademie etwas lernen kann. Nur die Schwachen gehen auf die Akademie, nur die Schwachen glauben, daß sie Kunst studieren können, daß sie Kunst lernen können. Entweder hat man das in sich wie eine Erleuchtung, die einem plötzlich kommt, oder man sucht und sucht und sucht und findet es meistens nicht. Entweder besitzt man die Gaben, die man bekommen hat, schon als Kind, seit seiner Geburt, oder man hat sie nicht. Hat man aber diese Gaben, so läuft man die größte Gefahr, in der Akademie oder in jeder Schule oder in jedem Zusammensein mit anderen Menschen dieses kostbarste Gut, das man besitzt, nämlich sein eigenes ICH, zu verlieren. Hat man aber sein eigenes ICH nicht gefunden oder es verloren und will es wiederfinden, so ist die Akademie der allerschlechteste Ort.
Denn dort ist man Einflüssen ausgesetzt, die einem nicht ent-sprechen, und es besteht die größte Gefahr, daß man irgend etwas adoptiert und dann sozusagen als sein Selbst erkennt, daß man sich in dem Wissen und dem Tun anderer Leute erkennt, daß man sich identifiziert mit etwas, das man selber nicht ist, mit etwas, das man gerne sein möchte, aber nicht ist, und dann leidet man sein ganzes Leben lang darunter. Das ist so, wie wenn man sich eine falsche Haut umgebunden hat oder wenn man Kleider anzieht, die einem nicht passen, und man sozusagen in diese Kleider hineinwachsen will!

Deswegen habe ich zu Beginn, wie Ihr Euch erinnert, gesagt, jeder soll doch seine eigenen Kinderzeichnungen herbringen.
Jeder soll dort beginnen, wo er noch er selbst war, bevor er zugeschüttet wurde, bevor er entfremdet wurde durch das Elternhaus, durch das Erziehungssystem, durch die Schule, durch die Gepflogenheiten unserer Zivilisation. Denn nur vom Ursprung aus kann man aufbauen. Das ist die einzige feste, sichere, unverrückbare Basis, der eigene Ursprung. Ganz gleich, wie diese Kinderzeichnungen ausgesehen haben…..

….Das nächste ist: Warum ich Bäume in die Klassen hineingestellt habe? Es ist ganz klar: Kunst und Natur haben sehr viel miteinander zu tun. Kunst ist die Brücke zwischen Mensch und Natur.
Kunst ist nicht die Brücke zwischen den Menschen. Was Kunst ist, muß sich jeder selbst aushandeln im Zwiegespräch mit der Natur. Der Mensch kann nicht kreativ sein, so wie die Schöpfung kreativ war, d.h. so wie Gott Bäume schafft, Natur schafft, Pflanzen schafft, Blumen hervorbringt, Welten hervorbringt, die dann durch sich selbst weiterexistieren und aufgrund einer unglaublichen Mannigfaltigkeit ihre Daseinsberechtigung haben, ein Räderwerk bilden, das ineinandergreift: Das kann der Mensch nicht, so sehr er sich auch intellektuell strapaziert. Im Gegenteil, je mehr er sich intellektuell strapaziert, um so weniger kommt er vorwärts. Der Mensch kommt nur dann vorwärts, wenn er neben seinem Intellekt andere Dinge wirken läßt. Der Intellekt soll ihn nur zur Selbstbeherrschung veranlassen, aber nicht zu Hochmütigkeit gegenüber der Natur….

Hundertwassers
an die Studenten der Meisterschule der Akademie der bildenden Künste in Wien vom Mai 1982

Expertin: Mag. Elke Königseder Mag. Elke Königseder
+43-1-515 60-358

elke.koenigseder@dorotheum.at


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
kundendienst@dorotheum.at

+43 1 515 60 200
Auktion: Zeitgenössische Kunst I
Auktionstyp: Saalauktion mit Live Bidding
Datum: 23.05.2024 - 18:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 11.05. - 23.05.2024